Am 4. und 5. Mai 2023 fand auf Einladung von Roland Glass, Präsident des Landgerichts Nürnberg-Fürth, ein länderübergreifender Austausch der Präsidentinnen und Präsidenten großer deutscher Landgerichte statt.
Die Teilnehmenden haben sich insbesondere mit den Gesetzentwürfen des Bundesjustizministeriums zur digitalen Dokumentation der strafgerichtlichen Hauptverhandlung sowie zu Förderung des Einsatzes von Videokonferenztechnik in der Zivilgerichtsbarkeit und den Fachgerichtsbarkeiten auseinandergesetzt. In einer gemeinsamen Erklärung haben die Präsidentinnen und Präsidenten der großen Landgerichte ihre Forderungen festgehalten:
Digitale Dokumentation der strafgerichtlichen Hauptverhandlung:
Die Präsidentinnen und Präsidenten der Landgerichte begrüßen zunächst das Signal aus dem Bundesministerium der Justiz, von dem Inhalt des Gesetzentwurfs abweichen zu wollen, soweit er die visuelle Dokumentation der strafgerichtlichen Hauptverhandlung vorsah. Darin sehen sich die Präsidentinnen und Präsidenten in der einhelligen Ablehnung dieses Vorhabens bestätigt. Aber auch die beabsichtigte Aufzeichnung des in der Hauptverhandlung gesprochenen Wortes wird in dieser Form als nicht hinreichend durchdacht, verfassungsrechtlich bedenklich und in der praktischen Umsetzung problembehaftet abgelehnt. Der Gesetzentwurf zeigt weder bestehende Defizite des erstinstanzlichen Strafverfahrens vor den Landgerichten noch den Zweck der angestrebten Reform auf, bringt dafür aber einen erheblichen personellen, technischen und finanziellen Mehraufwand mit sich.
Der Entwurf ist auch nicht abschließend durchdacht: Es besteht die Gefahr der Verzögerung von strafgerichtlichen Hauptverhandlungen, weil bei einem Nebeneinander von zusätzlicher Aufzeichnung und hergebrachter Protokollierung eine „Beweisaufnahme über die Beweisaufnahme“ droht. Mit möglichen Auswirkungen auf die Revisionsinstanz befasst sich der Entwurf nur am Rande. Das Vorhaben ist auch verfassungsrechtlich bedenklich, und zwar im Hinblick auf die Persönlichkeitsrechte der Beteiligten und das Recht auf informationelle Selbstbestimmung. Es besteht die Gefahr, dass durch die Aufzeichnung das Aussageverhalten und die Aussagebereitschaft von Zeugen nachteilig beeinflusst wird, insbesondere in Verfahren aus dem Bereich der Organisierten Kriminalität oder gegen Sexualstraftäter. Zudem besteht ein nicht kalkulierbares Risiko der missbräuchlichen Veröffentlichung der Aufnahmen. Der Gesetzentwurf ist auch in seiner jetzt diskutierten, reduzierten Form Ausdruck eines nicht nachvollziehbaren Misstrauens gegenüber der Richterschaft und kommt für die mit der flächendeckenden Einführung der elektronischen Akte ohnehin hoch belastete Strafjustiz zur Unzeit.
Förderung des Einsatzes von Videokonferenztechnik in der Zivilgerichts-barkeit und den Fachgerichtsbarkeiten:
Die erweiterte Möglichkeit des Einsatzes von Videokonferenztechnik im Zivilprozess ist grundsätzlich zu begrüßen. Dies gilt vor allem für die Möglichkeit, Videoverhandlungen anzuordnen und den Verfahrensbeteiligten auf Antrag einen Anspruch auf Befreiung einzuräumen. Kritisch sehen die Präsidentinnen und Präsidenten dagegen, dass übereinstimmende Anträge der Verfahrensbeteiligten auf Durchführung einer reinen Videoverhand-lung nur im Ausnahmefall durch das Gericht abgelehnt werden können. Die Letztentscheidung muss in solchen Fällen weiter bei den Richterinnen und Richtern liegen, die die Verantwortung für die Durchführung und Gestaltung des Verfahrens tragen. Die vorgesehene Anfechtbarkeit solcher Entscheidungen birgt hohes Verzögerungspotenzial und ist zudem systemwidrig. Denn verfahrensleitende Anordnungen können im Zivilprozess grundsätzlich nicht isoliert angefochten werden.
Quelle: OLG Nürnberg, Pressemitteilung vom 8. Mai 2023