Beim Deutschen Anwaltstag in Hamburg zieht der Deutsche Anwaltverein (DAV) zweierlei Bilanz: zum Stand der Digitalisierung der Justiz und zur (auch selbst) beschworenen „Chance für den Rechtsstaat“ durch die neue Koalition.
Kürzlich hatte eine Studie, unter anderem der Bucerius Law School, der deutschen Justiz einen Rückstand von 10 bis 15Jahren in Sachen Digitalisierung im Vergleich zu internationalen Vorreiterländern attestiert. DAV-Präsidentin Edith Kindermannsieht zwar ebenfalls Nachholbedarf, etwa bei der elektronischen Akte oder beim Ausbau von Videoverhandlungen – mit bundesweit einheitlicher Technik. Sie warnt aber auch vor der blinden Übernahme der Modelle anderer Länder: „Im Bereich der digitalen Transformation ist es wichtig, die Studienergebnisse nicht isoliert von der jeweiligen Rechtslage in den dortigen Ländern zu sehen“,betont Kindermann. „So bestätigen uns zum Beispiel die Kolleginnen und Kollegen aus Großbritannien, dass wir für viele dort vorhandene Systeme gar keinen Bedarf haben, weil in Deutschland ganz andere Möglichkeiten des Zugangs zur Anwaltschaft bestehen.“
Die Pandemie sei ein Katalysator für die Digitalisierung gewesen. „Wir sind erheblich digitaler geworden in den letzten beiden Jahren, sei es in der Kommunikation mit der Mandantschaft oder mit den Gerichten, sei es durch Videoverhandlungen, die schon jetzt an vielen Gerichten möglich sind“, so die DAV-Präsidentin. Gerade bei der Frage der notwendigen Anpassung der Zivilprozessordnung stehe der DAV in regem Austausch mit der Justiz und mit dem Bundesjustizministerium.
Chance für den Rechtsstaat?
Während der Sondierungs- und Koalitionsgespräche hatte der DAV die mögliche Ampel als „Chance für den Rechtsstaat“ bezeichnet. Nach rund 200 Tagen im Amt lohnt sich der kritische Blick auf den Stand der Dinge. Viele gute Ziele seien bekannt, so der DAV, ob im Koalitionsvertrag niedergeschrieben oder anderweitig versprochen – jetzt müsse es konkret weitergehen.
Dies betreffe etwa die Dokumentation der Hauptverhandlung, die nun endlich in die Realität umgesetzt werden müsse. Demgegenüber bedürfe die umstrittene Wiederaufnahme zulasten Freigesprochener einer Korrektur. Für weitere Verschärfungen des materiellen Strafrechts und des Strafprozessrechts brauche es ein generelles Moratorium, so Kindermann: „Wenn 2023 das ‚Strafrechtsjahr‘ sein soll, muss die 3-E-Regel gelten: Evidenz, Evaluation und Empirie.“
Auch im Familienrecht habe sich die Koalition ehrgeizige Ziele gesetzt. „Der Koalitionsvertrag geht tatsächlich über die Vorschläge des DAV im Vorfeld der Sondierungsgespräche hinaus und hat auch Änderungen in anderen Rechtsgebieten, insbesondere im Sozial- und Steuerrecht im Blick“, so die DAV-Präsidentin. „Es wird spannend zu sehen, wie – und wann – aus diesen Vorhaben Realität wird.“
Quelle: Deutscher Anwaltverein, Pressemitteilung vom 23. Juni 2022