Als eines der ersten Bundesländer setzt Sachsen-Anhalt die neuen Vorgaben des Deutschen Richtergesetzes um. Dieses sieht für angehende Juristinnen und Juristen während der Ausbildung die Befassung mit dem nationalsozialistischen Unrecht und dem Unrecht der SED-Diktatur vor, um die Fähigkeit künftiger Juristinnen und Juristen zur kritischen Reflexion des Rechts zu fördern.
In Sachsen-Anhalt wurden erstmals rund 50 Referendarinnen und Referendare im Rahmen ihres juristischen Vorbereitungsdienstes geschult. Hierfür wurden im April die ersten mehrtägigen Workshops im Rahmen des neuen Ausbildungsmoduls „SED-(Justiz-)Unrecht vermitteln im Rechtsreferendariat“ durchgeführt.
Die neue Schulungsreihe wurde vom Ministerium für Justiz und Verbraucherschutz des Landes Sachsen-Anhalt, der Beauftragten des Landes Sachsen-Anhalt zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, der Stiftung Gedenkstätten Sachsen-Anhalt, der Landeszentrale für politische Bildung Sachsen-Anhalt, dem Bundesarchiv mit den Stasi-Unterlagen-Archiven in Magdeburg und Halle (Saale) sowie der Stiftung Rechtsstaat gemeinsam als Kooperation initiiert.
Absicht ist es, neben der Vermittlung des historischen Kontexts zur Rechtsprechung in der SED-Diktatur die kritische Auseinandersetzung mit der damaligen Rechtstheorie sowie der damit verbundenen Rechtspraxis zu fördern, deren Auswirkungen für Betroffene bis heute anhalten.
Die Schulungen wurden an besonderen Orten durchgeführt, etwa der Gedenkstätte ROTER OCHSE in Halle (Saale), der Gedenkstätte Moritzplatz in Magdeburg sowie den Stasi-Unterlagen-Archiven in Halle und Magdeburg. Dadurch konnte den Teilnehmerinnen und Teilnehmern auch authentisches Archivmaterial zur Verfügung gestellt werden.
Ralf Burgdorf, Präsident des Landesjustizprüfungsamtes Sachsen-Anhalt und Initiator der neuen Schulungsreihe, ist mit der Workshop-Premiere sehr zufrieden: „Die Resonanz der Referendarinnen und Referendare ist positiv, insbesondere wegen der Verknüpfung von theoretischen und praktischen Inhalten. Als besonders eindrucksvoll wurden die Führungen durch die Gedenkstätten und die Unterlagenarchive sowie die Zeitzeugengespräche mit vom damaligen DDR-Justizunrecht Betroffenen bewertet. Wir wollen die mehrtägigen Workshops künftig in jedem Einstellungsjahrgang des juristischen Referendariats anbieten. Mein besonderer Dank gilt allen Kooperationspartnerinnen und Kooperationspartnern. Die hervorragende Zusammenarbeit aller Beteiligten hat diese neue und wichtige Pflichtausbildung ermöglicht.“
Birgit Neumann-Becker, die Landesbeauftragte zur Aufarbeitung der SED-Diktatur: „Mit der Aufarbeitung politischen Unrechts in der Sowjetischen Besatzungszone und DDR ist deutlich geworden, dass in einer Diktatur die Justiz zum effektiven Werkzeug zur Umsetzung politischer Ziele wird. In der DDR endeten zum Beispiel Gerichtsverhandlungen gegen Demonstranten vom 17. Juni 1953 mit Todesurteilen. Eine Theateraufführung mit Original-Audio-Dokumenten aus dem Gerichtssaal im heutigen Magdeburger Landgericht machte dies im Rahmen des Workshops erfahrbar. Anhand von Gesprächen mit Zeitzeugen sowie dem Studium von Stasi-Akten und Justizunterlagen wurde durch die Teilnehmerinnen und Teilnehmer herausgearbeitet, wie Geheimpolizei und Justiz in das Leben von Menschen eingriffen, und das Leid nicht mit der Diktatur endete, sondern sich in den Biografien der Betroffenen bis heute fortschreibt. Die Justiz hat es auch heute mit Opfern von Diktaturen zu tun – sowohl aus den deutschen Diktaturen, wie im Zusammenhang mit dem Asylrecht. Die Schulungen vermitteln den hohen Wert von Rechtsstaatlichkeit, den es zu bewahren gilt.“
Dr. Kai Langer, Direktor der Stiftung Gedenkstätten Sachsen-Anhalt: „Die neuen Workshops sind ein lohnendes Angebot für den juristischen Nachwuchs in Sachsen-Anhalt, um sich mit der Frage zu befassen, welcher Mittel und Methoden sich die SED bediente, um das Recht zur Absicherung ihrer Alleinherrschaft zu nutzen.“
Marit Krätzer, Leiterin des Stasi-Unterlagen-Archivs Halle (Saale): „Auch uns ist es ein großes Anliegen auf der Grundlage unseres gesetzlichen Auftrags, das geschehene Unrecht und den Beitrag der Staatssicherheit dazu zu vermitteln. Ich wünsche uns für das gemeinsame Projekt noch mehrere so gelungene Veranstaltungen und interessierte junge Menschen.“
Die nächsten Workshops für die Rechtsreferendarinnen und Rechtsreferendare, die ihren Vorbereitungsdienst im März dieses Jahres begonnen haben, sollen Ende September bzw. Anfang Oktober 2023 in Magdeburg und Halle stattfinden.
Hintergrund:
Das novellierte Deutsche Richtergesetz (DRiG) schreibt vor, dass zu den Pflichtfächern im juristischen Studium und im Referendariat ebenso wie in den anschließenden juristischen Staatsprüfungen die Auseinandersetzung mit dem nationalsozialistischen Unrecht und dem Unrecht der SED-Diktatur gehört.
Die Juristenausbildung in Deutschland ist zweistufig organisiert. Nach der Beendigung des Studiums der Rechtswissenschaften mit der Ersten Juristischen Prüfung (zur Juristin/zum Juristen) folgen das Rechtsreferendariat und die abschließende Zweite Juristische Staatsprüfung (zur Volljuristin/zum Volljuristen).
Das Rechtsreferendariat wird auch Vorbereitungsdienst genannt und ist die praktische Ausbildungsphase für angehende Juristinnen und Juristen in Deutschland. Das Referendariat dauert in der Regel zwei Jahre und besteht aus verschiedenen Praxisstationen, die im Wechsel absolviert werden. Die Ausbildung erfolgt zum Beispiel bei Gerichten, Staatsanwaltschaften, Anwaltskanzleien oder Verwaltungsbehörden. Das Rechtsreferendariat dient der Vorbereitung auf die spätere juristische Berufstätigkeit.
In Sachsen-Anhalt wird der juristische Vorbereitungsdienst vom staatlichen Landesjustizprüfungsamt (LJPA) organisiert und durchgeführt, welches organisatorisch zum Ministerium für Justiz und Verbraucherschutz gehört.
(c) JM Sachsen-Anhalt, 05.06.23