Mit heute veröffentlichtem Beschluss hat der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts entschieden, dass § 3 Abs. 1 Nr. 4 des Kommunalabgabengesetzes Rheinland-Pfalz (KAG RP) mit Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem verfassungsrechtlichen Grundsatz der Rechtssicherheit (Art. 20 Abs. 3 GG) insoweit unvereinbar ist, als danach Erschließungsbeiträge nach dem Eintritt der Vorteilslage zeitlich unbegrenzt erhoben werden können. Die Beitragspflichten verjähren in Rheinland-Pfalz zwar vier Jahre nach Entstehung des Abgabeanspruchs. Der Beginn der Festsetzungsfrist knüpft damit allerdings nicht an den Eintritt der Vorteilslage an, weil die Entstehung des Abgabeanspruchs von zusätzlichen Voraussetzungen abhängt. So bedarf es unter anderem einer öffentlichen Widmung der Erschließungsanlage, die erst nach tatsächlicher Fertigstellung der Anlage erfolgen kann. Die tatsächliche Vorteilslage und die Beitragserhebung können somit zeitlich weit auseinanderfallen. Dies verstößt gegen das Rechtsstaatsprinzip in seiner Ausprägung als der Rechtssicherheit dienendes Gebot der Belastungsklarheit und ‑vorhersehbarkeit.
Der Landesgesetzgeber ist verpflichtet, bis zum 31. Juli 2022 eine verfassungsgemäße Regelung zu treffen.
Sachverhalt:
Der Kläger des Ausgangsverfahrens, der Eigentümer mehrerer Grundstücke in Rheinland-Pfalz ist, wendet sich gegen die Erhebung von Erschließungsbeiträgen für die Herstellung einer Straße. In den Jahren 1985/1986 wurde die an die Grundstücke des Klägers angrenzende Straße vierspurig mit einer Länge von knapp 200 Metern gebaut. 1991 zog die Stadt den Kläger zu Vorausleistungen auf den Erschließungsbeitrag heran. Die zunächst vorgesehene vierspurige Fortführung der Straße wurde 1999 endgültig aufgegeben. Die Straße wurde stattdessen in den Jahren 2003/2004 zweispurig weitergebaut und in ihrer vollen Länge 2007 als Gemeindestraße gewidmet. Die Stadt setzte daraufhin für die hier maßgeblichen Flurstücke Erschließungsbeiträge fest. Dabei brachte sie die vom Kläger gezahlten Vorausleistungen in Abzug. Nachdem das Verwaltungsgericht zunächst zwei Bescheide aufhob, setzte die Stadt die beanstandeten Beitragsbescheide 2011 neu fest und erhob für ein einzelnes Flurstück einen Nacherhebungsbeitrag. Die dagegen gerichtete Klage blieb vor Verwaltungs- und Oberverwaltungsgericht überwiegend erfolglos. Die Beitragspflicht sei erst mit Widmung der Straße im Jahr 2007 entstanden. Die vierjährige Festsetzungsfrist sei somit erst am 31. Dezember 2011 abgelaufen, also nach Erlass der angefochtenen Bescheide. Sie sei auch nicht nach Treu und Glauben ausgeschlossen.
Auf die Revision des Klägers setzte das Bundesverwaltungsgericht das Verfahren aus und legte dem Bundesverfassungsgericht die Frage zur Entscheidung vor, ob § 3 Abs. 1 Nr. 4 KAG RP in Verbindung mit § 169 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2, § 170 Abs. 1 AO mit Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Grundsatz der Rechtssicherheit in seiner Ausprägung als Gebot der Belastungsklarheit und ‑vorhersehbarkeit (Art. 20 Abs. 3 GG) vereinbar sei, soweit er die Erhebung von Erschließungsbeiträgen zeitlich unbegrenzt nach dem Eintritt der Vorteilslage erlaubt. Es ist der Überzeugung, dass die Regelungen keine hinreichende Berücksichtigung des Interesses des Beitragsschuldners an einer zeitlich nicht unbegrenzten Inanspruchnahme gewährleisteten. Im konkreten Verfahren sei die Vorteilslage im Ausgangsverfahren nicht erst mit der Widmung der Straße im Jahre 2007, sondern spätestens mit der endgültigen Aufgabe ihrer durchgehend vierspurigen Herstellung im Jahre 1999 eingetreten. Sei die Beitragserhebung danach mehr als zehn Jahre nach Eintritt der Vorteilslage erfolgt, so sei angesichts der in anderen Bundesländern geltenden Höchstfristen nicht von vornherein auszuschließen, dass eine vom rheinland-pfälzischen Gesetzgeber noch zu erlassende Regelung die Heranziehung des Klägers zu Erschließungsbeiträgen hindere und somit seine Beitragspflicht dem Grunde nach entfallen lasse.
Wesentliche Erwägungen des Senats:
§ 3 Abs. 1 Nr. 4 KAG RP ist insoweit mit den verfassungsrechtlichen Anforderungen ausArt. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem verfassungsrechtlichen Grundsatz der Rechtssicherheit (Art. 20 Abs. 3 GG) unvereinbar, soweit danach die Möglichkeit besteht, dass nach dem Eintritt der tatsächlichen Vorteilslage unbefristet Beiträge erhoben werden.
1. Das im Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) verankerte Gebot der Belastungsklarheit und ‑vorhersehbarkeit schützt davor, dass lange zurückliegende, in tatsächlicher Hinsicht abgeschlossene Vorgänge unbegrenzt zur Anknüpfung neuer Lasten herangezogen werden können. Es erstreckt sich auf alle Abgaben zum Vorteilsausgleich und gilt in allen Fällen, in denen die abzugeltende tatsächliche Vorteilslage in der Sache eintritt, die daran anknüpfenden Beitragsansprüche aber wegen des Fehlens einer sonstigen Voraussetzung nicht entstehen und deshalb auch nicht verjähren können.
2. Das Gebot der Belastungsklarheit und ‑vorhersehbarkeit verlangt, dass Betroffene nicht dauerhaft im Unklaren gelassen werden, ob sie noch mit Belastungen rechnen müssen. Der Zeitpunkt, in dem der abzugeltende Vorteil entsteht, muss daher für die Betroffenen unter Zugrundelegung eines objektiven Empfängerhorizonts auch erkennbar sein. Der Begriff der Vorteilslage muss somit an rein tatsächliche, für den möglichen Beitragsschuldner erkennbare Gegebenheiten anknüpfen und rechtliche Entstehungsvoraussetzungen für die Beitragsschuld außen vor lassen.
3. Nach der fachgerichtlichen Rechtsprechung kommt es im Erschließungsbeitragsrecht für die abzugeltende Vorteilslage allein auf die tatsächliche bautechnische Durchführung der jeweiligen Erschließungsmaßnahme an. Eine derartige Vorteilslage ist anzunehmen, wenn eine beitragsfähige Erschließungsanlage den an sie zu stellenden technischen Anforderungen entspricht und dies für den Beitragspflichtigen erkennbar ist. Diese fachgerichtliche Rechtsprechung konkretisiert die Anforderungen an die Entstehung der erschließungsrechtlichen Vorteilslage aus der Perspektive des Gebots der Belastungsklarheit und ‑vorhersehbarkeit in verfassungsrechtlich nicht zu beanstandender Weise.
4. Danach verstößt es gegen Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG, dass das rheinland-pfälzische Landesrecht in § 3 Abs. 1 Nr. 4 KAG RP die zeitlich unbegrenzte Festsetzung von Erschließungsbeiträgen ermöglicht.
a) § 3 Abs. 1 Nr. 4 KAG RP gestattet in Fällen, in denen die mit Erschließungsbeiträgen abzugeltende tatsächliche Vorteilslage eingetreten ist, aber noch nicht alle Voraussetzungen für das Entstehen der sachlichen Beitragspflicht gegeben sind, die Festsetzung von Erschließungsbeiträgen ohne zeitliche Begrenzung. Denn der Beginn der Festsetzungsfrist hängt von der Entstehung der sachlichen Beitragspflicht ab, obwohl die tatsächliche Vorteilslage schon im Falle einer zulässigen tatsächlichen Nutzbarkeit der Erschließungsanlage und damit bereits vor dem Vorliegen sämtlicher Beitragsentstehungsvoraussetzungen eintreten kann. Die Regelung verschiebt auf diese Weise den Verjährungsbeginn ohne zeitliche Obergrenze nach hinten. Dies wird den Anforderungen des Gebots der Belastungsklarheit und ‑vorhersehbarkeit nicht gerecht.
b) Auch aus sonstigen Regelungen ergeben sich keine zeitlichen Grenzen der Erhebung von Erschließungsbeiträgen, die allein an den Zeitpunkt der Erlangung des tatsächlichen Vorteils anknüpfen. Eine absolute Ausschlussfrist für die Erhebung von Erschließungsbeiträgen ergibt sich insbesondere auch nicht aus § 53 Abs. 2 Satz 1 Verwaltungsverfahrensgesetz (VwVfG) oder dessen analoger Anwendung. Auch ist der Grundsatz von Treu und Glauben von vornherein nicht geeignet, um dem Beitragspflichtigen Klarheit über Beginn und Dauer der Festsetzungsverjährung bei Erschließungsbeiträgen zu verschaffen.
5. Es ist Aufgabe des Gesetzgebers, die berechtigten Interessen der Allgemeinheit am
Vorteilsausgleich und der Einzelnen an Rechtssicherheit durch entsprechende Gestaltung von Verjährungsbestimmungen zu einem angemessenen Ausgleich zu bringen. Ob dabei die in jedem Fall notwendige zeitliche Obergrenze adäquat bemessen ist, stellt eine primär dem Gesetzgeber überantwortete Frage dar. Jedenfalls genügte eine dreißigjährige Ausschlussfrist losgelöst von den Besonderheiten der Wiedervereinigung den verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht.
Quelle: Bundesverfassungsgericht, Pressemitteilung vom 9. November 2021