Insgesamt 5.616 sogenannte Dieselverfahren sind derzeit beim Bundesgerichtshof anhängig, wie die Präsidentin des Gerichts, Bettina Limberg, am Mittwoch im Rechtsausschuss ausführte. Das entspreche dem Jahreseingang aller Revisionen und Nichtzulassungsbeschwerden aller anderen zivilrechtlichen Bereiche. Sie beschrieb damit das Problem der Massenverfahren, auf das die Bundesregierung mit einem Gesetzentwurf „zur Einführung eines Leitentscheidungsverfahrens beim Bundesgerichtshof“ (20/8762) reagiert hat. Dazu gab es im Ausschuss eine öffentliche Expertenanhörung. Überwiegender Befund: Problem erkannt, aber nicht hinreichend gelöst.

Bettina Limberg befand allerdings bündig: „Das Leitentscheidungsverfahren muss kommen.“ Zwar könne das Vorhaben nur ein kleiner Baustein in einem gesetzgeberischen Konzept gegen Massenverfahren sein. Aber das Gesamtsystem des Zivilprozesses brauche jetzt eine schnelle und effiziente Lösung. Das Gesetz solle mit minimalinvasivem Eingriff ermöglichen, bei einer aufkommenden Massenwelle rechtzeitig für eine Klärung der Rechtslage zu sorgen, an der sich dann die Instanzgerichte orientieren könnten. Damit sei allen Instanzen und auch allen Beteiligten geholfen: Die Verbraucherinnen und Verbraucher hätten eine schnellere Entscheidung, die beteiligten Kreise könnten wirtschaftlich früher planen, die Gerichte ersparten sich fehlgeleitete und sinnlose Ressourcen. Der Markt der Sachverständigen könne sich deutlich entspannen.

Peter Allgayer vom Bundesgerichtshof legte dar, die Begründung des Gesetzentwurfs adressiere das Problem, dass bisher etwa durch Rücknahmen von Revisionen aus prozesstaktischen Gründen oder aufgrund eines Vergleichs höchstrichterliche Entscheidungen verhindert werden könnten, was häufig als „Flucht aus der Revision“ bezeichnet werde. Als ein Baustein für eine effiziente Erledigung von Massenverfahren sei es daher erforderlich, dass auch in Fällen der Revisionsrücknahme oder der sonstigen Erledigung der Revision zentrale Rechtsfragen zügig durch den Bundesgerichtshof erledigt werden können.

Alexander Bruns, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, stufte das Vorhaben als „nicht empfehlenswert“ ein. Es handle sich um einen Gesetzentwurf, der die Problematik der Massenverfahren zwar erkenne, aber keine zufriedenstellende Lösung entwickle. Das Vorhaben setze sich nicht hinreichend mit den Erkenntnissen der Prozessrechtsvergleichung auseinander. Es berücksichtige die durch den verfassungsrechtlichen Gewaltenteilungsgrundsatz gezogenen Grenzen zwischen Streitentscheidung und Normbildung nicht in wünschenswerter Klarheit. Die Ausführungen zur voraussichtlichen Entlastung von Bürgern und Unternehmen entbehrten jeder empirischen Grundlage und ließen sich allenfalls als gesetzgeberisches Wunschdenken einordnen.

Matthias Engelhardt, Deutscher Richterbund, erläuterte, die geplanten Regelungen blieben hinter den Erwartungen der Praxis deutlich zurück und würden nur zu einer äußerst geringen Entlastung der Justiz führen. Die Massenverfahren stellten zwar nach zutreffender Bewertung des Entwurfs eine große Belastung für die betroffenen Zivilgerichte dar. Diese Überlastung wirke sich auf die Bearbeitungsdauer aller dort anhängigen Verfahren negativ aus. Das vorgeschlagene Leitentscheidungsverfahren lasse allerdings die Probleme bei der Bearbeitung von Massenverfahren ungelöst.

Markus Hartung, Legal Tech Verband Deutschland, begrüßte im Prinzip die Initiative. Bestehende Ansprüche müssten in einem modernen digitalen Rechtsmarkt auch faktisch in einem angemessenen Zeitraum durchgesetzt werden können. Gerade in den Massenverfahren scheine dies in den letzten Jahren nicht bedingungslos gewährleistet gewesen zu sein. Es bestehe vor allem eine akute Notwendigkeit, die Justiz mit einer modernen Form des Verfahrensmanagements auszustatten. Die Möglichkeit einer Leitentscheidung durch den Bundesgerichtshof sei zu begrüßen. Der Gesetzentwurf sei indes nicht der große Wurf und enthalte Webfehler.

Charlotte Rau, Oberlandesgericht Frankfurt am Main, vertrat die Auffassung, das Gesetz könne dann ein guter und sinnvoller Baustein zur Bewältigung der Massenverfahren sein, wenn es kombiniert werde mit der Möglichkeit zur Aussetzung der vielen Massengerichtsverfahren seitens der Instanzgerichte. Sonst würde zwar die Funktion des Bundesgerichtshofs gestärkt, was positiv sei, hätte aber letztlich kaum Entlastungseffekte für die Arbeit der Instanzgerichte.

Bettina Rentsch, Freie Universität Berlin, sagte, das Leitentscheidungsverfahren setze ein weiteres wichtiges Signal gegen strategische Präjudizverweigerung in der Revision. Wenn der Gesetzgeber aber die richterliche Rechtsfortbildung in geordnete Bahnen lenken, dazu die Rechtssicherheit und Vorhersehbarkeit in Massenprozessen verbessern und Instanzgerichten die Arbeit erleichtern möchte, müsse er im Entwurf nachlegen. Das vorgeschlagene Leitentscheidungsverfahren falle als belastbare Ergänzung des bestehenden Kanons kollektiver Rechtsschutzmechanismen aus.

Michael Schultz, Bundesrechtsanwaltskammer, erklärte, das Ziel des Gesetzentwurfs werde unterstützt. Allerdings lägen nach wie vor keine konkreten Zahlen vor, wie viele Massenverfahren es gibt und in welchem Maß sie die Ziviljustiz trotz des Rückgangs der Eingänge belasten. Er forderte ein schlüssiges Gesamtkonzept, wie das Phänomen Massenschäden und die daraus folgenden Klagen von der Justiz in einem praktikablen und gleichzeitig auch rechtsstaatlichem Grundsatz entsprechenden Verfahren bewältigt werden können.

(c) HiB Nr. 941, 13.12.2023

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