Mit heute veröffentlichtem Beschluss hat die 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts die Verfassungsbeschwerde einer Gießener Ärztin nicht zur Entscheidung angenommen. Die Beschwerdeführerin wandte sich gegen eine strafrechtliche Verurteilung wegen Werbung für den Abbruch der Schwangerschaft und gegen die Strafvorschrift des § 219a Strafgesetzbuch (StGB).

Während des laufenden Verfahrens hob der Bundestag die Vorschrift des § 219a StGB sowie die hierauf beruhenden strafgerichtlichen Verurteilungen mit Gesetz vom 11. Juli 2022 rückwirkend auf. Infolgedessen hat sich das Rechtsschutzziel der Beschwerdeführerin erledigt. Ein trotz Erledigung ausnahmsweise fortbestehendes Rechtsschutzbedürfnis liegt nicht vor.

Sachverhalt:

Mit Urteil vom 24. November 2017 sprach das Amtsgericht Gießen die Beschwerdeführerin der Werbung für den Abbruch der Schwangerschaft gemäß § 219a Abs. 1 StGB schuldig und verurteilte sie zu einer Geldstrafe. Der Beschwerdeführerin, die in ihrer Arztpraxis in Gießen Schwangerschaftsabbrüche vornimmt, wurde zur Last gelegt, eine frei zugängliche Internetseite betrieben zu haben, auf welcher sie Informationen über Schwangerschaftsabbrüche verbreitet habe. Dort habe sie eine Datei zur Verfügung gestellt, in welcher sowohl allgemeine Informationen zum Schwangerschaftsabbruch als auch Hinweise zu den in der Praxis vorgenommenen Methoden enthalten gewesen seien.

Die von der Beschwerdeführerin gegen ihre strafrechtliche Verurteilung eingelegten Rechtsmittel führten zu einer Abänderung des Rechtsfolgenausspruchs, blieben jedoch im Übrigen erfolglos.

Wesentliche Erwägungen der Kammer:

Die Verfassungsbeschwerde ist unzulässig. Das Rechtsschutzziel der Beschwerdeführerin hat sich erledigt. Sie hat auch nicht hinreichend substantiiert dazu vorgetragen, dass sie trotz der Erledigung über ein fortbestehendes Rechtsschutzbedürfnis verfügt.

1. a) Das Rechtsschutzziel der Beschwerdeführerin hat sich erledigt, weil die unmittelbar angegriffenen Gerichtsentscheidungen und der mittelbar angegriffene § 219a StGB rückwirkend aufgehoben wurden. Sie entfalten gegenüber der Beschwerdeführerin keine belastenden Wirkungen mehr.

b) Der Eintritt einer erledigenden Situation wird nicht dadurch in Frage gestellt, dass die gesetzliche Vorschrift des Art. 316n Abs. 1 Nr. 1 des Einführungsgesetzes zum Strafgesetzbuch (EGStGB), mit welcher die auf § 219a StGB beruhenden strafgerichtlichen Urteile aufgehoben worden sind, ihrerseits im Rahmen eines möglichen Normenkontrollverfahrens für verfassungswidrig und in der Folge für nichtig erklärt werden könnte.

Die Verfassungsbeschwerde ist ein außerordentlicher Rechtsbehelf, der dem Einzelnen in erster Linie zur Verteidigung seiner Grundrechte und grundrechtsgleichen Rechte dient. Zu diesem Zweck ist eine Prüfung von Art. 316n Abs. 1 Nr. 1 EGStGB nicht erforderlich. Dieses Gesetz ist weder Gegenstand des Verfassungsbeschwerdeverfahrens, noch ist die Beschwerdeführerin durch das Gesetz beschwert.

Im Übrigen kann ein mögliches Normenkontrollverfahren nicht durch eine Inzidentprüfung des Art. 316n EGStGB innerhalb eines Verfassungsbeschwerdeverfahrens ersetzt werden. Ansonsten würden die notwendige Abgrenzung und Balance zwischen den einzelnen Verfahrensarten unterlaufen werden.

2. Bei Erledigung des Rechtsschutzziels einer Verfassungsbeschwerde besteht das Rechtsschutzbedürfnis nur in eng begrenzten Ausnahmefällen fort. Ein solcher Ausnahmefall liegt hier nicht vor.

a) Ein fortbestehendes Rechtsschutzbedürfnis kann nicht unter dem Gesichtspunkt einer Wiederholungsgefahr angenommen werden. Der mittelbar angegriffene § 219a StGB wurde ersatzlos aufgehoben. Künftige Verurteilungen der Beschwerdeführerin wegen Werbens für Schwangerschaftsabbrüche kommen daher nicht in Betracht.

b) Ein fortbestehendes Rechtsschutzbedürfnis kann weiterhin nicht damit begründet werden, dass sich die mit dem angegriffenen Hoheitsakt einhergehende Belastung auf eine Zeitspanne beschränkt, in welcher die Beschwerdeführerin nach dem regelmäßigen Geschäftsgang eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts kaum erlangen konnte und der Grundrechtsschutz der Beschwerdeführerin anderenfalls in unzumutbarer Weise verkürzt würde. Um eine solche Konstellation geht es vorliegend nicht.

c) Ein Rechtsschutzbedürfnis besteht auch nicht deshalb fort, weil ansonsten die Klärung einer verfassungsrechtlichen Frage von grundsätzlicher Bedeutung unterbliebe und der gerügte Grundrechtseingriff besonders belastend erscheint. Für das nicht mehr geltende Recht besteht kein über den Einzelfall hinausgehendes Interesse, seine Verfassungsmäßigkeit auch noch nach seinem Außerkrafttreten zu klären.

d) Ein schutzwürdiges Rechtsschutzinteresse besteht schließlich nicht unter dem Gesichtspunkt einer fortdauernden Beeinträchtigung.

Die Beschwerdeführerin muss nicht befürchten, dass sie trotz Aufhebung der strafgerichtlichen Urteile als verurteilte Straftäterin bezeichnet und dadurch stigmatisiert werden könnte. Der Gesetzgeber hat durch den Erlass von Art. 316n Abs. 1 Nr. 1 EGStGB die gegen die Beschwerdeführerin ergangenen strafgerichtlichen Entscheidungen aufgehoben. Dadurch wurde sie umfassend rehabilitiert. Dies entspricht der erklärten Absicht des Gesetzgebers. Welche zusätzliche Rehabilitationswirkung von einer verfassungsgerichtlichen Feststellung der Verfassungswidrigkeit des § 219a StGB ausgehen sollte, erschließt sich nicht.

Der Umstand, dass die entrichtete Geldstrafe der Beschwerdeführerin noch nicht erstattet wurde, führt ebenfalls nicht zu einer fortdauernden Belastung. Nach § 13 Abs. 1 der Einforderungs- und Beitreibungsanordnung (EBAO) steht der Beschwerdeführerin ein Anspruch auf Rückzahlung der entrichteten Geldstrafe zu. Dass eine Erstattung nach dieser Vorschrift grundsätzlich von Amts wegen zu erfolgen hat und hier nach dem Vortrag der Beschwerdeführerin bislang noch nicht geschehen ist, ändert daran nichts. Es steht ihr offen und ist ihr zumutbar, die von ihr bereits beantragte Rückforderung der Geldstrafe weiter zu betreiben und gegen ablehnende Entscheidungen den hierfür eröffneten Rechtsweg zu beschreiten.

Beschluss vom 10. Mai 2023
2 BvR 390/21

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