
Mit heute veröffentlichtem Beschluss hat die 2. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts eine Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen, die sich gegen fachgerichtliche Beschlüsse in einem Sorgerechtsstreit zwischen geschiedenen Eltern richtete. Aus der Ehe sind insgesamt vier Kinder hervorgegangen. Um das Sorgerecht für zwei der Kinder haben die Eltern sowohl in Deutschland als auch in Dänemark verschiedene gerichtliche Verfahren geführt, insbesondere um das Recht, den Aufenthaltsort der Kinder zu bestimmen. Die Verfassungsbeschwerde der Mutter richtete sich gegen mehrere Entscheidungen deutscher Gerichte, vor denen sie mit den jeweils eingelegten Rechtsmitteln in den Sorgerechtsverfahren erfolglos geblieben war. Nachdem die betroffenen Kinder mittlerweile seit einigen Jahren in Dänemark leben und ein dänisches Gericht dem Vater das Sorgerecht übertragen hatte, haben die deutschen Gerichte eine eigene Zuständigkeit nur noch für eilbedürftige Maßnahmen angenommen, in der Hauptsache aber die Zuständigkeit der deutschen Familiengerichtsbarkeit wegen des mehrjährigen Aufenthalts der Kinder in Dänemark verneint.
Die dagegen gerichtete Verfassungsbeschwerde der beschwerdeführenden Mutter blieb ohne Erfolg. Das Bundesverfassungsgericht hat zum einen – wegen des in Dänemark ergangenen Beschlusses zum Sorgerecht – bereits keine für die Beschwerdeführerin noch rechtlich belastenden Wirkungen der deutschen Entscheidungen und zum anderen keine Verletzung von Grundrechten der Mutter durch diese Entscheidungen erkennen können.
Sachverhalt:
Nach der Trennung der mittlerweile geschiedenen Eltern lebten zunächst alle vier aus der Ehe hervorgegangenen Kinder im Haushalt der Beschwerdeführerin in Deutschland. Der Vater ist wieder verheiratet und lebt mit seiner neuen Ehefrau in Dänemark. Für die beiden in den Ausgangsverfahren betroffenen Kinder bestand ab dem Jahr 2015 eine Umgangsregelung, die einen Wochenendumgang des Vaters mit den beiden Kindern in Dänemark vorsah. Im Verlauf eines solchen Umgangs teilte der Vater der Beschwerdeführerin Ende August 2021 mit, dass er die beiden Kinder entgegen der Vereinbarung nicht nach Deutschland zurückbringen werde, sondern sie in Dänemark bleiben würden. In der Folge kam es zu mehreren gerichtlichen Verfahren sowohl in Deutschland als auch in Dänemark, die jeweils das Sorgerecht beziehungsweise die Herausgabe oder Rückführung der Kinder zum Gegenstand hatten. Obwohl das Zurückhalten der Kinder durch den Vater von den Gerichten als rechtswidrig bewertet wurde, erfolgte deren Rückführung nach Deutschland nicht, weil die zuständigen dänischen Gerichte Härtefallgründe nach dem maßgeblichen Haager Übereinkommen über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung (HKÜ) bzw. dem inhaltsgleichen dänischen Recht annahmen, die einer Rückführung entgegenstünden.
In dem der Verfassungsbeschwerde zugrundeliegenden Hauptsacheverfahren zur elterlichen Sorge hat zunächst im September 2021 der Vater und im Oktober 2021 dann die Beschwerdeführerin die Übertragung des Sorgerechts jeweils auf sich allein bei dem Familiengericht in Deutschland beantragt. Die Erstellung eines vom Familiengericht beauftragten Sachverständigengutachtens kam nicht zustande, weil der Vater weder selbst an der Begutachtung mitwirkte noch die Begutachtung der Kinder zuließ.
In der Nacht vom 31. Dezember 2023 auf den 1. Januar 2024 ereignete sich eine Entführung der betroffenen Kinder durch mehrere Personen. Die Kinder wurden von Dänemark nach Deutschland verbracht. Ab dem 2. Januar 2024 hatte die Beschwerdeführerin Kontakt mit den Kindern; spätestens seit dem 3. und bis zum 5. Januar 2024 hielten diese sich in ihrem Haushalt in Deutschland auf. Im Anschluss an diese Verbringung der Kinder sind sowohl in Dänemark als auch in Deutschland mehrere Verfahren zum Sorgerecht für die Kinder geführt beziehungsweise fortgeführt worden. So übertrug das zuständige dänische Amtsgericht mit Beschluss vom 2. Januar 2024 einstweilen das Sorgerecht und das Aufenthaltsbestimmungsrecht auf den Vater. Es sei international zuständig, weil sich die Kinder seit August 2021 in Dänemark aufhielten und sie sich dort niedergelassen hätten. In Deutschland hat das Oberlandesgericht am 5. Januar 2024 in einem Eilverfahren durch einstweilige Anordnung ebenfalls das Aufenthaltsbestimmungsrecht und das „Erziehungsrecht“ für die betroffenen Kinder auf den Vater allein übertragen und deren sofortige Herausgabe an ihn angeordnet. Es sei für Eilmaßnahmen im einstweiligen Anordnungsverfahren nach dem hier maßgeblichen Art. 11 des Haager Kinderschutzübereinkommen (KSÜ) zuständig. Mit einem weiteren Beschluss vom 19. Februar 2024 hat das Oberlandesgericht in dem Hauptsacheverfahren zur elterlichen Sorge wie zuvor bereits das Familiengericht die fehlende internationale Zuständigkeit deutscher Gerichte festgestellt. Es sei davon auszugehen, dass die Kinder sich beide in ausreichender Form familiär und auch sozial in Dänemark integriert hätten.
Mit ihrer Verfassungsbeschwerde hat die Beschwerdeführerin u.a. die Verletzung von Art. 6 Abs. 2 Satz 1 Grundgesetz (GG) (elterliches Sorgerecht) und Art. 20 Abs. 3 in Verbindung mit Art. 2 Abs. 1 GG im Sinne des allgemeinen Justizgewährungsanspruchs geltend gemacht.
Wesentliche Erwägungen der Kammer:
Die Verfassungsbeschwerde ist teilweise unzulässig und teilweise unbegründet.
1. Der Beschluss des Oberlandesgerichts vom 19. Februar 2024 im Hauptsacheverfahren, mit dem das Gericht das Bestehen einer internationalen Zuständigkeit deutscher Gerichte für das Verfahren verneint hat, verletzt die Beschwerdeführerin nicht in Grundrechten oder grundrechtsgleichen Rechten. Mit der Verneinung der internationalen Zuständigkeit deutscher Gerichte für eine Entscheidung über das Sorgerecht der betroffenen Kinder hat das Oberlandesgericht weder das Elterngrundrecht der Beschwerdeführerin aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG noch den allgemeinen Justizgewährungsanspruch aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG verletzt.
a) Entscheidungen inländischer Fachgerichte in Anwendung von Art. 7 KSÜ berühren das Elterngrundrecht. Wird – wie vorliegend – die internationale Zuständigkeit verneint, kann ein Elternteil jedenfalls dann nicht mehr über den Aufenthalt des Kindes bestimmen sowie seine sonstigen Erziehungsrechte nicht wahrnehmen, wenn in einem anderen Vertragsstaat des Kinderschutzübereinkommens das Sorgerecht oder wesentliche Teile davon, wie vor allem das Aufenthaltsbestimmungsrecht, auf den anderen Elternteil übertragen worden sind. Der Regelungsgehalt und die mit Art. 7 KSÜ verfolgten Zwecke sprechen ebenfalls für die Annahme, Entscheidungen auf der Grundlage dieser Regelung berührten das Elterngrundrecht, wie dies der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Haager Übereinkommen, insbesondere zu Art. 13 HKÜ), entspricht.
Die Auslegung und Anwendung von Art. 7 Abs. 1 Buchst. b) KSÜ durch das Oberlandesgericht beruhen aber nicht auf einer grundsätzlich unrichtigen Auffassung von der Bedeutung des Elterngrundrechts (Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG) oder vom Umfang seines Schutzbereichs. Die Annahme des Oberlandesgerichts, der gewöhnliche Aufenthalt der Kinder liege in Dänemark, nachdem sie sich zum Entscheidungszeitpunkt bereits mehr als zwei Jahre dort aufgehalten hatten, begegnet keinen verfassungsrechtlichen Bedenken. Die dem zugrundeliegende Auslegung, dass der „gewöhnliche Aufenthalt“ rein tatsächlich und nicht normativ bestimmt werden muss, kann sich auf höchstrichterliche Rechtsprechung zu dem entsprechenden Merkmal im Haager Übereinkommen stützen. Verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden ist auch die Würdigung des Oberlandesgerichts, die Kinder hätten sich im Sinne des Art. 7 Abs. 1 Buchst. b) KSÜ „eingelebt“. Die dem zugrundeliegende Gesamtbewertung einzelner Umstände anhand fachrechtlich anerkannter Kriterien genügt den verfassungsrechtlichen Anforderungen. Das Oberlandesgericht hat neben dem Zeitmoment von über zwei Jahren Aufenthaltsdauer in Dänemark bei der familiären und sozialen Integration der Kinder nachvollziehbar darauf abgestellt, dass sich die Bindungen zum Vater intensiviert hätten, die Kinder einen geregelten Alltag mit der neuen Familie sowie einen durchgängigen Aufenthalt an einem Wohnort in Dänemark hätten und eine zeitnahe Einschulung der Kinder nach deren Zurückhalten erfolgt sei; Freizeitaktivitäten mit neuen Freunden fänden statt. Beide Kinder sprächen auch – allerdings mit unterschiedlichem Sprachvermögen – Dänisch. Sofern das Oberlandesgericht als weiteres Indiz für das Einleben auf den nachhaltig und nachvollziehbar geäußerten Kindeswillen, mit dem eine Rückkehr abgelehnt werde, abstellt, zieht es auch hier ein fachrechtlich anerkanntes Auslegungskriterium heran, das den Grundrechten der Kinder Rechnung trägt. Das Oberlandesgericht führt hierzu aus, dass die beiden Kinder gegenüber den verschiedenen Fachbeteiligten sowohl vor deutschen Gerichten als auch im Rahmen der Anhörungen in Dänemark in den letzten beiden Jahren (August 2021 bis Juli 2023) konstant geäußert hätten, beim Vater und den dortigen Familienangehörigen in Dänemark leben zu wollen.
b) Auch der allgemeine Justizgewährungsanspruch ist nicht verletzt. Dieser Anspruch ist Bestandteil des Rechtsstaatsprinzips in Verbindung mit den Grundrechten, insbesondere Art. 2 Abs. 1 GG. Er garantiert darüber hinaus aber auch die Effektivität des Rechtsschutzes. Davon ausgehend folgen hier aus dem allgemeinen Justizgewährungsanspruch keine weitergehenden Anforderungen an den angegriffenen Beschluss des Oberlandesgerichts vom 19. Februar 2024 und an die Verfahrensgestaltung, als sie bereits aus dem Elterngrundrecht des Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG einschließlich des darin enthaltenen Gebots, eine ausreichend tragfähige Grundlage für die zu treffende Entscheidung zu schaffen, resultieren. Der angegriffene Beschluss des Oberlandesgerichts beruht auch hinsichtlich der Verfahrensgestaltung nicht auf einer grundsätzlich unrichtigen Anschauung von der Bedeutung des Elterngrundrechts der Beschwerdeführerin oder der wegen der Kindeswohlorientierung des Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG zu berücksichtigenden Interessen der betroffenen Kinder.
2. Soweit sich die Verfassungsbeschwerde gegen die im Eilverfahren ergangenen Beschlüsse des Oberlandesgerichts vom 5. Januar 2024 und vom 19. Februar 2024 richtet, ist sie ebenfalls unzulässig. Es ist nicht in genügender Weise dargelegt noch ist ersichtlich, dass insoweit ein Rechtsschutzbedürfnis der Beschwerdeführerin besteht.
Die Verfassungsbeschwerde geht nicht darauf ein, ob das erforderliche Rechtsschutzbedürfnis im Hinblick auf die vorläufige Sorgerechtsentscheidung besteht, obwohl aus mehreren Gründen Anlass bestanden hätte, sich dazu zu verhalten. Es liegen nämlich erhebliche Zweifel vor, ob die angegriffene vorläufige Sorgerechtsentscheidung noch Auswirkungen auf das fachrechtliche Sorgerecht und damit auf die durch Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG gewährleistete Erziehungsverantwortung der Beschwerdeführerin haben kann.
Die Begründung der Verfassungsbeschwerde hätte sich wegen des weiteren Verlaufs des Hauptsacheverfahrens zum Sorgerecht damit auseinandersetzen müssen, ob die im Beschluss vom 5. Januar 2024 im Wege einstweiliger Anordnung getroffene Sorgerechtsentscheidung mit dem Beschluss des Oberlandesgerichts vom 19. Februar 2024 im Hauptsacheverfahren außer Kraft getreten ist. Ein solches Außerkrafttreten kommt nach dem maßgeblichen inländischen Verfahrensrecht in Betracht. So tritt nach § 56 Abs. 2 Nr. 2 Familienverfahrensgesetz (FamFG) eine einstweilige Anordnung außer Kraft, wenn der Antrag in der Hauptsache rechtskräftig abgewiesen ist. Danach kann der Antrag der Beschwerdeführerin, ihr das Aufenthaltsbestimmungsrecht für ihre beiden betroffenen Kinder zur alleinigen Ausübung zu übertragen, im Sinne der Norm rechtskräftig durch den Beschluss des Oberlandesgerichts vom 19. Februar 2024 im Hauptsacheverfahren mit der Verneinung der internationalen Zuständigkeit deutscher Gerichte abgewiesen worden sein. Nach zum Fachrecht vertretener, wenn auch bestrittener Auffassung greift § 56 Abs. 2 Nr. 2 FamFG nicht allein bei abweisenden Sachentscheidungen in der Hauptsache, sondern auch dann ein, wenn der Antrag als unzulässig abgewiesen wird. Ein Außerkrafttreten kommt erst recht in Betracht, wenn das Oberlandesgericht seine Zuständigkeit zum Erlass der einstweiligen Anordnung auf § 64 Abs. 3 FamFG gestützt haben sollte. Mit dem Erlass einer einstweiligen Anordnung auf dieser Grundlage wird nach wohl einhelligem fachrechtlichem Verständnis kein eigenständiges Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes nach den §§ 49 ff. FamFG eröffnet, sondern es handelt sich um einen bloßen Annex des Beschwerdeverfahrens. Dementsprechend endet die Wirkung einer einstweiligen Anordnung nach § 64 Abs. 3 FamFG stets mit dem Abschluss des Beschwerdeverfahrens, der hier mit dem Beschluss des Oberlandesgerichts vom 19. Februar 2024 im Hauptsacheverfahren erfolgte.
Bundesverfassungsgericht, 13.05.2025