Mit Urteil vom 13.12.2022 hat der 1. Senat des Oberverwaltungsgerichts der Freien Hansestadt Bremen die Straßenverkehrsbehörde verpflichtet, unter Beachtung der Rechtsauffassung des Oberverwaltungsgerichts erneut über den Antrag von Anwohnern zu entscheiden, die ein straßenverkehrsbehördliches Einschreiten gegen die in den von ihnen bewohnten Straßen bestehende Praxis des aufgesetzten Gehwegparkens begehren. Die Anwohner haben einen Anspruch
auf eine ermessensfehlerfreie Entscheidung, wenn der Gehweg in seiner Funktion beeinträchtigt
wird. Eine solche Funktionsbeeinträchtigung liegt vor, wenn durch das aufgesetzte Parken auf
den Gehwegen nicht mehr genügend Platz für einen ungehinderten Verkehr von Fußgängern gegebenenfalls mit Kinderwagen oder Rollstuhlfahrern auch im Begegnungsverkehr verbleibt.

Die Kläger waren bzw. sind Eigentümer und Bewohner von Wohnhäusern in den bremischen
Stadtteilen Östliche Vorstadt, Neustadt und Findorff. In den von den Klägern bewohnten Straßen
wird seit Jahren auf beiden Straßenseiten aufgesetzt auf den Gehwegen geparkt, obwohl dies
nicht durch Verkehrszeichen erlaubt wurde. Der Antrag der Kläger auf Einschreiten gegen diesen
verkehrsordnungswidrigen Zustand wurde von der Straßenverkehrsbehörde abgelehnt. Mit ihrer
Klage machten die Kläger geltend, dass die Straßenverkehrsbehörde geeignete Maßnahmen gegen
das aufgesetzte Gehwegparken ergreifen und diese anschließend evaluieren müsse.

Dem ist das Verwaltungsgericht in der ersten Instanz (5 K 1968/19) im Wesentlichen gefolgt und
hat festgestellt, dass die Kläger als Anwohner von Straßen, in denen nicht nur vereinzelt, sondern
dauerhaft verkehrsordnungswidrig auf den Gehwegen geparkt werde, berechtigt seien, von
der Straßenverkehrsbehörde ein Einschreiten zu verlangen. Das Oberverwaltungsgericht hat diese Entscheidung im Kern bestätigt, der Straßenverkehrsbehörde aber ein größeres Ermessen bei
der Umsetzung ihrer Maßnahmen eingeräumt. Dabei hat es sich von folgenden Erwägungen leiten
lassen:

Das aufgesetzte Parken verstößt gegen das aus § 12 Abs. 4 und 4a StVO abzuleitende Verbot,
Gehwege ohne spezielle Erlaubnis zum Abstellen von Kraftfahrzeugen zu nutzen. Dieses allgemeine
Verbot des Gehwegparkens wird in den Wohnstraßen der Kläger offensichtlich nicht beachtet.
Hiergegen kann die Straßenverkehrsbehörde unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes
straßenverkehrsrechtliche Anordnungen treffen. Grundsätzlich liegen auch die Voraussetzungen
für die Durchführung von Abschleppmaßnahmen vor.

Die Parkvorschriften in § 12 Abs. 4 und 4a StVO dienen in erster Linie der Sicherheit und Leichtigkeit
des Verkehrs und damit grundsätzlich dem Interesse der Allgemeinheit. Das Oberverwaltungsgericht
geht jedoch davon aus, dass dem Verbot des Gehwegparkens auch eine individualschützende
Funktion zukommt, da es erkennbar den Interessen derjenigen dient, die den Gehweg
zulässigerweise benutzen. Dies bedeutet jedoch nicht, dass dieser Individualschutz in jedem
Fall, d.h. unabhängig vom Grad der Beeinträchtigung, gewährt werden müsste. Vielmehr besteht
ein solcher Schutz nur, wenn die Belange dieser Nutzer in einer qualifizierten und individualisierten
Weise betroffen sind. Dies ist dann der Fall, wenn eine für die Betroffenen unzumutbare
Funktionsbeeinträchtigung des Gehweges eintritt.

Das Oberverwaltungsgericht hat festgestellt, dass die Funktion eines Gehwegs nicht erst dann
beeinträchtigt ist, wenn Fußgänger nicht mehr oder nur mit Mühe an parkenden Fahrzeugen vorbeikommen oder ein Fußgängergegenverkehr erschwert wird. Es genügt nicht, wenn nur ein
schmaler Engpass verbleibt, den Rollstuhlfahrer oder Personen mit Kinderwagen „mit Mühe und
Not“ passieren können. Vielmehr muss auch ein Begegnungsverkehr unter ihnen und mit Fußgängern
möglich bleiben.

Hiervon ausgehend hat das Gericht für die Kläger eine unzumutbare Funktionsbeeinträchtigung
der Gehwege bejaht, weil in ihren Straßen durch das aufgesetzte Parken Restgehwegbreiten von
weniger als 1,50 m auf annähend der gesamten Länge der vorhandenen Gehwege verbleiben.
Ein Begegnungsverkehr ist hier nicht mehr möglich.

Die Kläger des vorliegenden Verfahrens haben folglich einen Anspruch auf eine ermessensfehlerfreie
Entscheidung über ein behördliches Einschreiten. Eine Pflicht der Straßenverkehrsbehörde,
unmittelbar gegen die verkehrsordnungswidrig parkenden Fahrzeuge einzuschreiten, besteht
nach Auffassung des Gerichts jedoch nicht. Dies begründet es damit, dass die betroffenen Gehwege
in den Straßen der Kläger noch immer – wenn auch eingeschränkt – nutzbar sind und Rechtsgüter von überragender Bedeutung, wie etwa die Gesundheit, nicht konkret gefährdet sind. So müssen Gehwegnutzer in den betroffenen Straßen nicht auf die Straße ausweichen.

Der Ermessenspielraum der Behörde bleibt auch in Anbetracht der Dauer und Häufigkeit der
Verstöße bestehen. Diesen Punkt hatte die Vorinstanz noch anders gesehen. Nach Auffassung
des Oberverwaltungsgerichts ist die Behörde vielmehr gehalten, bei ihren Entscheidungen zu berücksichtigen, dass es sich bei dem Problem des unerlaubten Gehwegparkens um eine Praxis
handelt, die in den innerstädtischen Lagen weit verbreitet und über Jahrzehnte weitestgehend
geduldet worden ist. Vor diesem Hintergrund ist es nach Auffassung des Gerichts sachgerecht,
wenn die Behörde innerhalb eines Konzepts für ein stadtweites Vorgehen zunächst den Problemdruck
in den am stärksten betroffenen Quartieren ermittelt. Soweit dabei geplant ist, die Straßen
mit besonders geringen verbleibenden Restgehwegbreiten priorisiert zu behandeln, ist dagegen
nichts einzuwenden. Der Verweis auf ein Konzept wird aber die Ermessensentscheidung
nur solange tragen, wie dieses auch tatsächlich und nachvollziehbar umgesetzt wird.

Das Oberverwaltungsgericht hat wegen grundsätzlicher Bedeutung die Revision gegen das Urteil
zugelassen. Das Urteil ist auf der Homepage des Gerichts abrufbar.

OVG Bremen, Urteil vom 13.12.2022 (Az.: 1 LC 64/22)

Quelle: Oberverwaltungsgericht Bremen, Pressemitteilung vom 3. März 2023

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