Verwahrlost der Binnenmarkt an entscheidenden Stellen? Überregulierung sowohl durch die EU als auch durch die Mitgliedstaaten bei der Umsetzung belastet Unternehmen stark. Seit 30 Jahren sollte der Binnenmarkt vollendet sein – und dennoch stoßen deutsche Unternehmen noch immer an Grenzen und bürokratische Hindernisse. Zum Teil wird die Situation sogar schlimmer. Das ist das Ergebnis einer aktuellen DIHK-Analyse aus der Befragung der 79 Industrie- und Handelskammern (IHKs) in Deutschland sowie der deutschen Auslandshandelskammern (AHKs) in allen EU-Mitgliedstaaten.  

  

Der Binnenmarkt steht auf der Tagesordnung in Brüssel: Der Europäische Rat und die EU-Kommission haben Berichte zur Reform des Binnenmarktes und zur Wettbewerbsfähigkeit angefordert, die im Sommer vorliegen werden (sog. „Letta-Bericht“ und „Draghi-Bericht“). Die DIHK hat als Basis für die Weichenstellungen der neuen Legislatur eine Befragung der 79 Industrie- und Handelskammern (IHKs) in Deutschland sowie der deutschen Auslandshandelskammern (AHKs) in allen EU-Mitgliedstaaten vorgenommen. Die Ergebnisse sind eindeutig: Deutsche Unternehmen stoßen noch immer häufig an Grenzen und zahlreiche Hindernisse. Freier Warenverkehr und Handel sind demnach längst nicht vollendet. An vielen Stellen sind Verbesserungen dringend erforderlich.  

„Bisweilen berichten uns deutsche Unternehmen sogar von unverhältnismäßigen und teilweise schikanösen bürokratischen Hürden“, sagt DIHK-Präsident Peter Adrian. „Wenn wir es mit Europa ernst meinen, müssen wir die unnützen und unnötigen Regulierungen endlich auf ganzer Breite abschaffen. Bürokratieabbau ist deshalb auch auf europäischer Ebene eines der zentralen Themen.“  

Immerhin bietet Europa als größter Binnenmarkt der Welt ein beispielloses Potenzial für Unternehmen und Verbraucher. Zwei Drittel des gesamten EU-Warenhandels entfallen auf den Binnenmarkt. Insgesamt sind durch ihn mehr als 50 Millionen europäische Arbeitsplätze entstanden. Der freie Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital ist das Herzstück der europäischen Integration. „Aber wir stehen uns selbst im Weg. Ein Binnenmarkt muss zuerst intern funktionieren, um nach außen mit Kraft wirken zu können“, so Adrian. Gerade im internationalen Wettbewerb wird dies immer wichtiger. „Der EU-Binnenmarkt muss deshalb vor allem als echter Markt erhalten bleiben. Das kann aber nicht mehr funktionieren, wenn ihm immer mehr Regulierungen und sich teilweise widersprechende politische Vorgaben wirtschaftlich die Luft abschnüren.“  

Ganz vorne bei den Problemen steht nach DIHK-Erkenntnissen die Arbeitnehmerentsendung. Ungeeignete Regulierung geht hier mit zusätzlichen nationalen Hürden Hand in Hand. Dabei ist gerade für kleine und mittlere Unternehmen wichtig, ihre Arbeitnehmer bei der Erbringung von Dienstleistungen auch kurzfristig vor Ort im Ausland einzusetzen. Die Hindernisse beginnen mit nationalen Unterschieden bei den Meldeportalen und führen über unabgestimmte digitale Verfahren bis hin zu Schwierigkeiten bei der Mindestlohnabrechnung mit ausländischen Unternehmen. „Durch unterschiedliche und unnötig komplexe nationale Umsetzung von EU-Recht in den einzelnen Mitgliedstaaten entstehen für Unternehmen hohe Kosten und rechtliche Unsicherheiten. Bei Fehlern drohen Sanktionen, teilweise geht es um Straftatbestände“, warnt DIHK-Chefjustitiar Stephan Wernicke. „Die Flut an Regelungen ist mittlerweile exorbitant. Statt die Unternehmen in ihrer Praxis zu unterstützen und Freiräume für Ideen, Innovationen und Entwicklung zu lassen, müssen sie hunderte Dokumentationen und Berichte ausfüllen.“   

Häufig sind Unternehmen in anderen EU-Ländern mit Verwaltungsportalen konfrontiert, die nicht auf Englisch, sondern nur in der Landessprache funktionieren – auch Deutschland ist hier kein Vorbild. Der E-Commerce leidet unter je nach Land notwendiger unterschiedlicher Neuetikettierung im Versandhandel. Und es setzt sich im Großen fort: Das europäische Sorgfaltspflichtengesetz gilt nicht etwa nur außerhalb der EU, sondern schon innerhalb der EU. So geht es davon aus, dass der Binnenmarkt selbst nicht mehr als Ort rechtmäßigen Handelns angesehen werden kann, sondern auch hier die Unternehmen über menschenrechtliche und Umweltrisiken berichten müssen. Gleichzeitig wachsen bei den Unternehmen die Zweifel an der Rechtsstaatlichkeit in einzelnen Mitgliedstaaten, während die EU gleichzeitig den Unternehmen den Investitionsschutz beschneidet.   

Diese und andere Beispiele aus der Umfrage verdeutlichen: „Gute Ziele rechtfertigen keine schlechte Regulierung“, so Wernicke. “Es droht eine rechtliche Verwahrlosung des Binnenmarktes, wenn die garantierten Freiheiten des Marktes, auch in der digitalen Ökonomie, nicht mehr fraglos gesichert werden.” Teilweise überlegen Unternehmen, aufgrund der komplizierten Verfahren oder des eingeschränkten Rechtsschutzes, sich ganz aus einzelnen EU-Ländern zurückzuziehen. „Das wäre das Gegenteil dessen, für was der EU-Binnenmarkt eigentlich steht. Das wird uns alle treffen“, sagt Wernicke. Denn Leidtragende sind neben den Unternehmen die Verbraucher. Die durch Bürokratie und Rechtsunsicherheiten entstehenden Kosten belasten am Ende auch sie. „Die Politik ist gefragt und muss sich auf das Wesentliche konzentrieren: Rechtssicherheit, Rechtsstaatlichkeit und freier Wettbewerb im gemeinsamen Binnenmarkt sind zentrale Standortfaktoren, die zu sichern sind, bevor immer neue und kaum vereinbare politische Ziele gesetzt werden.“  

(c) DIHK, 03.04.2024

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