Das Bundesverfassungsgericht hat eine Organklage der AfD-Fraktion zur angeblich fehlenden Beschlussfähigkeit des Bundestages in mehreren Sitzungen als unzulässig verworfen. Die Fraktion hatte beanstandet, dass kein Hammelsprung zur Stimmenzählung durchgeführt wurde, konnte jedoch weder eine fristgerechte Antragstellung noch eine hinreichend begründete Rechtsverletzung darlegen. Auch der Vorwurf einer geheimen Absprache im Bundestagspräsidium blieb unsubstantiiert.

Mit heute veröffentlichtem Beschluss hat der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts eine Organklage der AfD-Fraktion im Deutschen Bundestag als unzulässig verworfen.

Die Antragstellerin hatte in mehreren Sitzungen des 19. Deutschen Bundestages dessen Beschlussfähigkeit angezweifelt. In ihren Anträgen beanstandet sie unter anderem, dass in zwei Sitzungen die Vizepräsidentin bzw. der Vizepräsident, die die jeweilige Sitzung leiteten, keinen sogenannten Hammelsprung zur Zählung der Stimmen durchführten. Die Antragstellerin sieht sich dadurch in ihren Rechten verletzt.

Die Organklage bleibt ohne Erfolg; die einzelnen Anträge erfüllen unterschiedliche Zulässigkeitsvoraussetzungen nicht.

Sachverhalt:

Die Beschlussfähigkeit des Deutschen Bundestages ist nicht im Grundgesetz, sondern in der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages geregelt. Danach ist der Bundestag beschlussfähig, wenn mehr als die Hälfte seiner Mitglieder im Sitzungssaal anwesend ist. Wird vor Beginn einer Abstimmung die Beschlussfähigkeit von einer Fraktion oder von anwesenden fünf vom Hundert der Mitglieder des Bundestages bezweifelt und auch vom Sitzungsvorstand nicht einmütig bejaht, so sind die Stimmen zu zählen. Hierfür wird ein sogenannter Hammelsprung durchgeführt. Normalerweise wird durch Handzeichen oder Aufstehen abgestimmt; Fraktionen stimmen oft geschlossen ab, so dass der Sitzungsvorstand das Ergebnis anhand der Fraktionsstärken feststellen kann. Darüber hinaus sieht die Geschäftsordnung vor, dass bis zur Eröffnung der Abstimmung von einer Fraktion oder von anwesenden fünf vom Hundert der Mitglieder des Bundestages die namentliche Abstimmung verlangt werden kann.

Wie bereits in mehreren Sitzungen zuvor, bezweifelte die Antragstellerin in der 107. Sitzung des 19. Deutschen Bundestages am 28. Juni 2019 gegen 1.27 Uhr dessen Beschlussfähigkeit, als die Abstimmung über mehrere Gesetzentwürfe in zweiter Lesung aufgerufen wurde. Die Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages, die die Sitzung leitete, (Antragsgegnerin zu 2.) erwiderte, der Sitzungsvorstand habe miteinander diskutiert und sei der Meinung, dass die Beschlussfähigkeit gegeben sei. Die Abstimmungen über die Gesetzentwürfe erfolgten sodann ohne Zählung der Stimmen sowohl in zweiter als auch im unmittelbaren Anschluss hieran in dritter Lesung. Die Gesetzentwürfe erhielten – festgestellt anhand der Fraktionsstärken – die Mehrheit der abgegebenen Stimmen. Im anschließenden Sitzungsverlauf wurde noch ein weiteres Gesetz beschlossen.

Am 7. Juli 2019 beantragte die Antragstellerin beim Bundesverfassungsgericht den Erlass einer einstweiligen Anordnung, die dem Bundespräsidenten bis zur endgültigen Klärung der Rechtslage untersagen sollte, die beschlossenen Gesetze auszufertigen und zu verkünden. Mit Beschluss vom 17. September 2019 lehnte der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts diesen Eilantrag ab.

In der 124. Sitzung des 19. Deutschen Bundestages gegen 1.45 Uhr am 8. November 2019 rief der die Sitzung leitende Vizepräsident des Deutschen Bundestages (Antragsgegner zu 3.) zur Abstimmung über einen Gesetzentwurf in zweiter Lesung auf. Ein Abgeordneter der Antragstellerin zweifelte für seine Fraktion die Beschlussfähigkeit des Bundestages an. Der Antragsgegner zu 3. entgegnete: „Es sieht aber ganz gut aus. – Also, wir sind im Präsidium der Meinung, dass die Beschlussfähigkeit gegeben ist“. Daraufhin beantragte ein weiterer Abgeordneter der Antragstellerin eine namentliche Abstimmung. Der Antragsgegner zu 3. antwortete, dass man eine namentliche Abstimmung durchführen werde. Zunächst ließ er über den Gesetzentwurf in zweiter Lesung durch Handzeichen abstimmen und stellte seine Annahme fest. Sodann rief er die dritte Lesung des Gesetzentwurfs auf und führte die Schlussabstimmung hierzu als namentliche Abstimmung durch. Die Auszählung ergab 133 abgegebene Stimmen. Daraufhin stellte der Antragsgegner zu 3. die Beschlussunfähigkeit des Bundestages fest und hob die Sitzung auf.

Mit Schriftsatz vom 7. Mai 2020 erhob die Antragstellerin Organklage gegen den Deutschen Bundestag, die Vizepräsidentin und den Vizepräsidenten sowie gegen das Präsidium des Bundestages. Mit den ersten beiden Anträgen macht sie geltend, das Verhalten der Antragsgegner zu 2. und 3. habe sowohl ihre eigenen verfassungsmäßigen Rechte als auch Mitwirkungsrechte des Deutschen Bundestages bei der Gesetzgebung verletzt. Ihr Antrag zu 3. ist auf die Feststellung einer Rechtsverletzung dadurch gerichtet, dass die Mitglieder des Bundestagspräsidiums (Antragsgegner zu 4.) eine geheime Vereinbarung getroffen hätten, wonach künftige „Bezweiflungen der Beschlussunfähigkeit“ der Antragstellerin durch einmütiges Bejahen der Beschlussfähigkeit seitens des Sitzungsvorstands ins Leere laufen sollten.

Wesentliche Erwägungen des Senats:

Die Anträge sind unzulässig.

1. Der Antrag zu 1. ist verfristet.

Die Antragstellerin beanstandet mit ihrem Antrag zu 1. das Vorgehen der Antragsgegnerin zu 2. in der 107. Sitzung am 28. Juni 2019 und die Beschlussfassungen des Bundestages (Antragsgegner zu 1.). Da die Antragstellerin hiervon unmittelbar Kenntnis erlangte, begann die sechsmonatige Antragsfrist insoweit am selben Tag, also am 28. Juni 2019, zu laufen. Der entsprechende Antrag wurde indes erst am 7. Mai 2020 und damit nach Fristablauf gestellt. Auf die spätere Verkündung der beschlossenen Gesetze am 25. November 2019 kommt es für den Beginn der Frist nicht an. Wird – wie hier – lediglich ein Einzelakt des mehrgliedrigen Normsetzungsverfahrens beanstandet, spielt die spätere Verkündung der Gesetze für den Fristlauf keine Rolle.

2. Der Antrag zu 2. genügt den Begründungsanforderungen nicht.

Ein Antrag im Organstreitverfahren ist nur zulässig, wenn der Antragsteller schlüssig behauptet, dass er oder das Organ, dem er angehört, durch eine Maßnahme oder Unterlassung des Antragsgegners in seinen ihm durch das Grundgesetz übertragenen Rechten und Pflichten verletzt oder unmittelbar gefährdet ist. Die mögliche Rechtsverletzung muss sich aus dem Sachvortrag des Antragstellers ergeben. Handelt es sich um Verfahrensabläufe im Deutschen Bundestag, muss er den relevanten Ablauf des parlamentarischen Geschehens entsprechend dem Sitzungsprotokoll vollständig und widerspruchsfrei darstellen. Ebenso muss er darlegen, dass der Antragsgegner die Verantwortung für die beanstandete Maßnahme oder Unterlassung trägt. Aus der Schilderung der Maßnahmen und Unterlassungen des Antragsgegners zu 3. durch die Antragstellerin ergibt sich nicht, worin eine mögliche Rechtsverletzung oder unmittelbare Rechtsgefährdung liegen soll. Sie trägt lediglich vor, der Antragsgegner zu 3. habe auf ihr Bezweifeln der Beschlussfähigkeit hin die Sitzung fortgesetzt, ohne einen „Hammelsprung“ durchzuführen. Die vollständigen Abläufe im Einzelnen, insbesondere dass eine Abstimmung ohne Zählung der Stimmen erfolgte, schildert sie hingegen nicht. Dies wäre jedoch notwendig. Denn nur die Durchführung der Abstimmung ohne Stimmzählung kann die rechtserhebliche Maßnahme des Antragsgegners zu 3. sein. Allein die Fortsetzung einer Sitzung ist noch nicht rechtserheblich.

Auch aus dem Vortrag zum weiteren Verlauf der streitgegenständlichen Sitzung erschließt sich nicht, welche rechtserhebliche Maßnahme oder Unterlassung konkret beanstandet wird.

Zudem ergibt sich aus dem Vortrag der Antragstellerin nicht, dass dieser Antrag gegen den richtigen Antragsgegner gerichtet sein könnte. Organstreitverfahren, die sitzungsleitende Entscheidungen im Rahmen der Plenarsitzungen des Deutschen Bundestages zum Gegenstand haben, sind gegen den Präsidenten oder die Präsidentin des Deutschen Bundestages zu richten. Der Präsident des Deutschen Bundestages ist dabei auch dann der richtige Antragsgegner, wenn es um die Maßnahme eines Stellvertreters geht, da die Stellvertreter als „amtierende Präsidenten“ an seiner Stelle handeln.

3. Der Antrag zu 3. bezieht sich nicht auf einen tauglichen Antragsgegenstand.

Voraussetzung dafür, dass eine Maßnahme oder Unterlassung Gegenstand eines Organstreits sein kann, ist nicht nur, dass sie rechtserheblich ist. Erforderlich ist zudem, dass sie objektiv vorliegt. Andernfalls ist eine Rechtsverletzung nicht möglich.

Die Antragstellerin trägt für ihre Vermutung, innerhalb des Präsidiums sei eine heimliche Verabredung getroffen worden, nicht mehr als vage Anhaltspunkte vor. Bloße Vermutungen ins Blaue hinein genügen jedoch nicht. Das Bundesverfassungsgericht ist lediglich bei hinreichend substantiiertem Vortrag zur Sachaufklärung verpflichtet.

Zudem wäre eine Abrede, wie die Antragstellerin sie behauptet, nicht rechtserheblich. Insbesondere sind Gespräche zur Abstimmung und Vorbereitung parlamentarischen Handelns keine Beschlüsse des Bundestages oder seiner Organteile.

Bundesverfassungsgericht, 24.06.2025

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