
Bei der Podiumsdiskussion „Stehlen, schlagen, stechen – Eskaliert die Jugendkriminalität?“ im Münchner Justizpalast diskutierten Experten aus Wissenschaft, Justiz und Strafverfolgung über Ursachen und Entwicklungen der Jugendkriminalität. Einigkeit bestand über die Rolle sozialer Medien und sozialer Faktoren, während über Strafverschärfungen kontrovers diskutiert wurde. Alle Beteiligten betonten die Bedeutung von Prävention, Bildung und frühzeitiger Intervention zur wirksamen Bekämpfung jugendlicher Gewalt.
Nahezu 100 Teilnehmer, darunter zahlreiche Ehrengäste aus Justiz und Politik, konnte die Vorsitzende des Bayerischen RichtervereinsBarbara Stockinger trotz strahlenden Sonnenscheins und hochsommerlicher Temperaturen am 25.06.2025 im Münchner Justizpalast begrüßen. Sie waren der Einladung des Bayerischen Richtervereins und des Deutschen Richterbundes zu einer öffentlichen Podiumsdiskussion im Rahmen der Reihe „Justiz im Dialog“ gefolgt. Unter dem Titel „Stehlen, schlagen, stechen – Eskaliert die Jugendkriminalität?“ diskutierten ausgewiesene Experten, ob Jugendkriminalität tatsächlich zunimmt, welche Ursachen zugrunde liegen und wie unsere Gesellschaft angemessen reagieren kann.
Unter der Moderation der Journalistin und Juristin Julia Kammler (Bayerischer Rundfunk) gingen die Diskutanten zunächst der Frage nach, ob sich Umfang und Art der von Jugendlichen begangenen Straftaten in den vergangenen Jahren verändert haben. Der Gewaltforscher Prof. Dr. Dirk Baier (Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften) betonte, dass man bei der Betrachtung der Zahlen stets den Ausgangspunkt im Blick behalten müsse. Im Vergleich zu den Jahren der Pandemie sei die Jugendkriminalität 2024 explodiert; im Vergleich zum Jahr 2023 habe sich zuletzt sogar Positives getan. Auch wenn grundsätzlich ein Anstieg bei den jüngeren Tätern und bei Messerkriminalität zu verzeichnen sei, plädierte er dafür, nicht in Alarmismus zu verfallen. Während Michael Laumer (Bayerisches Landeskriminalamt) hervorhob, dass ein Unterschied zwischen den statistischen Daten und der medialen Wahrnehmung bestehe, ergänzte die Münchner Strafverteidigerin Michaela Landgraf aus ihrer Praxis, dass die Delikte nicht mehr, wohl aber brutaler werden. Bei Gewaltdelikten beobachte sie, dass sich der Zeitpunkt, an dem vom Opfer abgelassen werde, nach hinten verschiebe. Diese Erfahrungen konnte auch der Jugendrichter Klaus-Peter Jüngst (Amtsgericht München) bestätigen. Er verzeichnet eine Zunahme von Verfahren, die vor den Jugendschöffengerichten verhandelt werden, sowie von Mädchen und jungen Frauen als Täterinnen.
Bei den Ursachen von Jugendkriminalität waren sich die Podiumsteilnehmer einig, dass soziale Medien eine zentrale Rolle spielen. Die Nutzung sozialer Medien sei, so Prof. Baier, weder gut noch schlecht, und es bestehe laut Michael Laumer auch kein monokausaler Zusammenhang zwischen Kriminalität und der Nutzung sozialer Medien. Für die Strafverteidigerin Landgraf wirken soziale Medien jedoch als Brandbeschleuniger. Das Smartphone sei im Alltag der Jugendlichen – auch in Gesprächen mit Mandanten – nicht mehr wegzudenken. Die Realität der Jugendlichen speise sich unmittelbar aus den Inhalten in den sozialen Medien, so als handele es sich um die Tagesschau. Die Corona-Pandemie war laut Michael Laumer eine gern gesehene Erklärung für den Anstieg von Jugendkriminalität. Einen Anstieg habe es allerdings auch schon vor der Pandemie gegeben. Die Pandemie habe die Probleme nicht geschaffen, aber als Durchlauferhitzer gewirkt, auch weil die Schule als wichtiger Sozialisationsraum zeitweise weggefallen sei. Einig waren sich Laumer und Jüngst, dass Gründe für Kriminalität im sozialen Umfeld der Jugendlichen zu finden sind. Wo Probleme im Elternhaus bestehen, so Jüngst, treffe man auch vermehrt auf Delinquenz bei Jugendlichen.
Im dritten Teil wollte Julia Kammler wissen, welche Maßnahmen erforderlich seien, um Jugendkriminalität wirksam zu bekämpfen. Diskutiert werde hier oft eine Verschärfung des Strafrechts, insbesondere eine Senkung des Alters für die Strafmündigkeit. Prof. Baier berichtete aus der Schweiz, wo die Strafmündigkeit bereits ab 10 Jahren einsetzt und zuletzt eine lebenslange Verwahrung für junge Straftäter bei schweren Gewalttaten eingeführt wurde. Er konstatierte aber auch, dass sich Wissenschaft und Politik in der Frage der Ursachenbekämpfung nicht mehr viel zu sagen haben. Michael Laumer und Klaus-Peter Jüngst waren sich einig, dass schon viel erreicht worden sei. Es gebe gute und effektive Präventionsmaßnahmen: Verfahren seien beschleunigt und die Zusammenarbeit der Akteure intensiviert worden. Dennoch gebe es Verbesserungsbedarf – etwa bei der Ausgestaltung der Jugendstrafhaft. Michaela Landgraf machte deutlich, wie wichtig Bildung ist. Den Jugendlichen fehlten oft grundlegende Kenntnisse über Demokratie und Rechtsstaat. Mit gezielten Schulungsmaßnahmen könne man viel erreichen.
Am Ende nutzten die zahlreichen Zuhörer im Saal noch die Gelegenheit, den Experten Fragen zu stellen. Hier wurde einmal mehr deutlich, dass es wichtig ist, eine gemeinsame Sprache zu finden und mit den Jugendlichen zu kommunizieren. Prof. Baier betonte, dass es unter den Jugendlichen den Grundkonsens gebe, dass Gewalt falsch sei. In bestimmen Situationen werde dieser jedoch „neutralisiert“. Alle Experten auf dem Podium waren sich einig, dass Prävention eine Daueraufgabe für die Gesellschaft ist, die immer neu erfunden werden muss.
Abschließend dankte die Co-Vorsitzende des Deutschen Richterbundes Andrea Titz den Diskutanten für die spannende und aufschlussreiche Diskussion sowie dem Bayerischen Richterverein für die gelungene Organisation. Sie brachte ihre Freude darüber zum Ausdruck, dass die Veranstaltung auf so große Resonanz stößt. Das zeige, dass das seit 2014 vom Deutschen Richterbund ins Leben gerufene Format „Justiz im Dialog“ immer noch lebendig sei. Der Bayerische Richterverein habe in den zurückliegenden Jahren regelmäßig zu einer Veranstaltung in der Reihe eingeladen. Sie sei zuversichtlich, dass sich auch im kommenden Jahr ein ebenso spannendes wie aktuelles Thema finden werde.
Bayerischer Richterverein, 30.06.2025