
Das Bundesverwaltungsgericht hat entschieden, dass eine Entscheidung der Medizinischen Kommission als Gremium zwingende Voraussetzung für die Leistungsbewilligung nach dem Conterganstiftungsgesetz ist und deren Fehlen eine erneute Entscheidungspflicht der Stiftung begründet. Zudem stellte das Gericht klar, dass die Thalidomid-Einnahme die wahrscheinlichste Ursache für die geltend gemachten Fehlbildungen sein muss, wenn mehrere Ursachen ernsthaft in Betracht kommen.
Fehlt es an der nach dem Conterganstiftungsgesetz (ContStifG) vorgeschriebenen Entscheidung der Medizinischen Kommission über das Vorliegen eines Schadensfalles im Sinne des Gesetzes, rechtfertigt dies regelmäßig den Ausspruch des Gerichts, die beklagte Conterganstiftung zu einer erneuten Entscheidung über den Antrag zu verpflichten. Das hat das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig heute entschieden.
Der 1961 geborene Kläger begehrt wegen mehrerer konkret benannter Fehlbildungen die Gewährung von Leistungen nach dem Conterganstiftungsgesetz. Seine nach Ablehnung des Antrags und erfolglosem Widerspruchsverfahren erhobene Verpflichtungsklage hatte vor dem Verwaltungsgericht keinen Erfolg.
Auf die Berufung des Klägers hat das Oberverwaltungsgericht das erstinstanzliche Urteil zum Teil geändert und die beklagte Conterganstiftung in Bezug auf einen Teil der geltend gemachten Fehlbildungen zur Neubescheidung des Antrags verpflichtet. Die Revision der Beklagten hatte überwiegend keinen Erfolg.
Nach der gesetzlichen Regelung setzt der Stiftungsvorstand auf der Grundlage der Entscheidung der bei ihm einzurichtenden Kommission, ob ein Schadensfall im Sinne des Gesetzes vorliegt und wie dieser zu bewerten ist, die Leistungen nach dem Conterganstiftungsgesetz fest (§ 16 Abs. 6 ContStifG). Diese Entscheidung der aus mindestens fünf Mitgliedern (einem Juristen und medizinischen Sachverständigen verschiedener Fachbereiche) bestehenden Kommission (§ 16 Abs. 2 ContStifG) über den Schadensfall verlangt – wie die Auslegung dieser Normen ergibt – eine kollegiale Entscheidungsfindung der Kommission unter Beteiligung aller Mitglieder. Dies folgt neben dem Wortlaut und der Gesetzessystematik vor allem aus dem Sinn und Zweck der Norm. Die Entscheidung des mit besonderem Sachverstand ausgestatteten Gremiums soll eine höhere Richtigkeit und Akzeptanz gewährleisten, um weitere Streitfälle und unnötige Prozesse zu vermeiden. Das ist nur sichergestellt, wenn die Mitglieder der Kommission die Bewertungen und Argumente aller übrigen Mitglieder kennen, sich hierüber austauschen können und sich ihre Entscheidung und Bewertung somit als Ergebnis des in der Kommission gebündelten Sachverstandes darstellt. Auf der Grundlage der für das Bundesverwaltungsgericht bindenden tatsächlichen Feststellungen des Oberverwaltungsgerichts ist diese Voraussetzung nicht erfüllt. Danach hat der Vorsitzende der Kommission nacheinander die Stellungnahme von nur acht der damals insgesamt 21 medizinischen Sachverständigen eingeholt. Das Oberverwaltungsgericht durfte bei dieser Fallkonstellation ausnahmsweise davon absehen, die Sache selbst durch weitere Aufklärungsmaßnahmen spruchreif zu machen. Denn die (nach § 16 Abs. 6 ContStifG) zwingend vorausgesetzte, hier aber fehlende Entscheidung der Kommission als Gremium kann als solche von den Tatsachengerichten nicht nachgeholt oder ersetzt werden.
Die vom Oberverwaltungsgericht für die Neubescheidung durch die Beklagte als maßgeblich niedergelegte Rechtsauffassung zu den Anforderungen an den (in § 12 Abs. 1 ContStifG mit der Formulierung „in Verbindung gebracht werden können“ zum Ausdruck gebrachten) herabgesetzten Beweismaßstab steht indes mit Bundesrecht nicht vollumfänglich in Einklang. Das Oberverwaltungsgericht ist zwar im Ansatz zu Recht davon ausgegangen, dass über die anspruchsbegründenden Voraussetzungen (nach § 12 Abs. 1 ContStifG), ob die Fehlbildungen mit der Einnahme thalidomidhaltiger Präparate der Grünenthal GmbH durch die Mutter während der Schwangerschaft in Verbindung gebracht werden können, unter Zugrundelegung eines geringeren Beweismaßes als des Vollbeweises zu entscheiden ist. Über die Zurechnung ist danach im Wege einer Gesamtbetrachtung unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles zu befinden. Dabei hat das Oberverwaltungsgericht aber zu Unrecht angenommen, es genüge für die Zurechnung, wenn die Thalidomideinnahme für die Fehlbildungen gleichermaßen wahrscheinlich sei wie eine andere Ursache.
Erforderlich ist bei mehreren ernsthaft in Betracht kommenden Ursachen vielmehr, dass die Thalidomideinnahme in Relation zu den anderen Ursachen trotz bestehenbleibender Zweifel die wahrscheinlichste Ursache für die Fehlbildungen ist. Dem haben sowohl die Conterganstiftung als auch die Tatsachengerichte im Rahmen ihrer Amtsaufklärungspflicht Rechnung zu tragen.
BVerwG 5 C 2.24 – Urteil vom 09. Juli 2025
Bundesverwaltungsgericht, 09.07.2025