Der 7. Senat des Bundessozialgerichts berichtet über seine Sitzung vom 8. Dezember 2022 in Angelegenheiten der Grundsicherung für Arbeitsuchende.


1)10.00 Uhr – B 7/14 AS 25/21 R – 1. N. d. M., 2. S. H. ./. Bundesagentur für Arbeit
beigeladen: Jobcenter Berlin Marzahn-Hellersdorf


Vorinstanzen:
Sozialgericht Berlin – S 84 AL 1210/19, 13.12.2019
Landessozialgericht Berlin-Brandenburg – L 14 AL 4/20, 05.11.2020


Die Revision der Beklagten war zurückzuweisen. Das LSG hat im Ergebnis zu Recht dieangefochtenen Widerspruchsbescheide aufgehoben. Denn die beklagte Bundesagentur für Arbeitwar nicht berechtigt, diese in eigenem Namen zu erlassen. Nach § 44b Abs 1 Satz 1 bis 3 SGB IIbilden zur einheitlichen Durchführung der Grundsicherung für Arbeitsuchende die Träger im Gebietjedes kommunalen Trägers eine gemeinsame Einrichtung. Diese nimmt die Aufgaben der Trägernach diesem Buch wahr. Mit dieser Wahrnehmungszuständigkeit korrespondiert die Befugnis,Verwaltungsakte und Widerspruchsbescheide im eigenen Namen zu erlassen. Nach § 44b Abs 4SGB II kann auf Grundlage eines Beschlusses der Trägerversammlung die gemeinsameEinrichtung aber einzelne Aufgaben auch durch ihre Träger wahrnehmen lassen. Die Regelungermöglicht die Zuweisung einzelner Aufgaben durch Auftrag, aber auch die Übertragunghoheitlicher Befugnisse zur Wahrnehmung eines ganzen Aufgabenkomplexes zur Erledigung ineigenem Namen. Ob der Forderungseinzug, der regelmäßig die Rückabwicklung von Leistungenumfasst, die Aufgabengebiete beider Träger betreffen, als Aufgabenkomplex auf nur einen Trägerzum Handeln im eigenen Namen zulässigerweise übertragen werden könnte, kann hier dahingestellt bleiben.
Denn nach dem Beschluss der Trägerversammlung wurde die Beklagte nur ermächtigt, Verwaltungsakte und Widerspruchsbescheide im Namen der gemeinsamen Einrichtung, also desbeigeladenen Jobcenters, und nicht im eigenen Namen zu erlassen. Die Vorgaben dieses Beschlusses setzt insoweit auch die Zusatzverwaltungsvereinbarung nach § 44b Abs 4 SGB II zwischen der Beklagten und dem Beigeladenen um. Sie hält für Widerspruchsverfahren im Zusammenhang mit der Durchführung des Forderungseinzugs fest, dass die entsprechende Dienststelle der Beklagten im Namen der gemeinsamen Einrichtung handelt.
Dem entsprechen die angefochtenen Widerspruchsbescheide nicht. Die Beklagte hat weder im Namen des Beigeladenen entschieden noch auf andere Art und Weise und aus Sicht des Bescheidadressaten transparent ein Vertretungsverhältnis offen gelegt. Klarheit darüber, wem ein Verwaltungshandeln zuzurechnen ist, gehört aber zu den unabdingbaren Rechtmäßigkeitserfordernissen eines jeden Verwaltungsakts.
Die von der Klägerin eingelegte Revision war schon wegen fehlender Postulationsfähigkeit als unzulässig zu verwerfen.

2) 11.00 Uhr – B 7/14 AS 10/21 R – M. M. ./. Jobcenter Dessau-Roßlau
beigeladen: Stadt Dessau-Roßlau – Sozialamt –


Vorinstanzen:
Sozialgericht Dessau-Roßlau – S 7 AS 1933/10, 02.12.2013
Landessozialgericht Sachsen-Anhalt – L 4 AS 173/18 ZVW, 26.11.2020


Die Revision der Klägerin ist ohne Erfolg geblieben. Der Beklagte hat zu Recht die Bewilligungen von Alg II für Januar 2005 bis Oktober 2009 zurückgenommen und insgesamt 42 155,88 Euro erstattet verlangt.
Die Bewilligung von Alg II war von Anfang an rechtswidrig erfolgt. Denn die Klägerin war wegen des Bezugs einer russischen Altersarbeitsrente nach § 7 Abs 4 SGB II von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen. Die ihr gewährte Rente ist nach den den Senat bindenden tatsächlichen Feststellungen des LSG zum ausländischen Recht einer deutschen Altersrente vergleichbar. Die nur geringe Rentenhöhe hindert nicht die Annahme einer Vergleichbarkeit mit einer deutschen Altersrente. Bei der erforderlichen rechtsvergleichenden Betrachtung kommt es nicht auf die konkrete Rentenhöhe, sondern auf die Übereinstimmung abstrakter, das jeweilige System kennzeichnender Kriterien an. Ist nach diesen Maßstäben von einer Vergleichbarkeit der von der Klägerin bezogenen Rente mit einer Altersrente aus dem deutschen Rentenversicherungssystem auszugehen, greift auch die dem Leistungsausschluss des § 7 Abs 4 SGB II zugrundeliegende typisierende Annahme eines Abschlusses des Erwerbslebens und daran normativ anknüpfend grundsätzlich die Zuordnung der Klägerin zum existenzsichernden System des SGB XII.
Schutzwürdiges Vertrauen der Klägerin stand der Aufhebung der Leistungsbewilligungen nicht entgegen. Diese beruhten nach den revisionsgerichtlich nur eingeschränkt überprüfbaren Feststellungen des LSG auf Angaben, die die Klägerin grob fahrlässig unrichtig bzw unvollständig gemacht hat. Durchgreifende Revisionsrügen sind insoweit nicht erhoben worden. Die Klägerin hat in keinem der Anträge auf Bewilligung von Alg II den Bezug der Altersrente angegeben. Schlechte deutsche Sprachkenntnisse hindern den Vorwurf der groben Fahrlässigkeit ebenso wenig wie die Angabe einer Rente in der Devisenerklärung bei der Einreise in die Bundesrepublik im Jahr 2004.
Schließlich steht der Rücknahme der Bewilligungsbescheide und der Erstattung auf Grundlage des § 50 SGB X auch nicht die Erfüllungsfiktion des § 107 Abs 1 SGB X entgegen. Danach gilt der Anspruch des Berechtigten gegen den zur Leistung verpflichteten Leistungsträger als erfüllt, soweit ein Erstattungsanspruch besteht. Träte die Erfüllungsfiktion ein, würde sie der Klägerin einen Rechtsgrund für das Behaltendürfen des Alg II verleihen und damit die Rücknahme der Leistungsbewilligung durch das Jobcenter und den Erstattungsanspruch insoweit ausschließen. Dem hier allein denkbaren Erstattungsanspruch des Jobcenters gegen den beigeladenen Sozialhilfeträger nach § 105 SGB X (Anspruch des unzuständigen Leistungsträgers) steht allerdings § 105 Abs 3 SGB X entgegen. Danach gilt § 105 Abs 1 SGB X ua gegenüber Trägern der Sozialhilfe nur von dem Zeitpunkt an, von dem ihnen bekannt war, dass die Voraussetzungen für ihre Leistungspflicht vorlagen. An der erforderlichen positiven Kenntnis der Leistungspflicht des Beigeladenen während des streitbefangenen Zeitraums fehlt es aber bereits deshalb, weil die Klägerin auch im Jahr 2004 gegenüber dem Sozialhilfeträger nicht den laufenden Bezug einer (Alters-)Rente angegeben hatte, die für ihre Zuordnung zum System des SGB XII (und nicht des SGB II) maßgeblich war.

3) 11.00 Uhr – B 7/14 AS 11/21 R – I. P. ./. Jobcenter Dessau-Roßlau
beigeladen: Stadt Dessau-Roßlau – Sozialamt –


Vorinstanzen:
Sozialgericht Dessau-Roßbach – S 8 AS 2788/10, 12.12.2013
Landessozialgericht Sachsen-Anhalt – L 4 AS 174/18 ZVW, 26.11.2020


Die Revision der Klägerin ist ohne Erfolg geblieben. Der Beklagte hat zu Recht die Bewilligungen von Alg II für Januar 2005 bis April 2010 zurückgenommen und insgesamt 48 179,87 Euro erstattet verlangt.
Die Bewilligung von Alg II war von Anfang an rechtswidrig erfolgt. Denn die Klägerin war wegen des Bezugs einer russischen Altersarbeitsrente nach § 7 Abs 4 SGB II von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen. Die ihr gewährte Rente ist nach den den Senat bindenden tatsächlichen Feststellungen des LSG zum ausländischen Recht einer deutschen Altersrente vergleichbar.
Schutzwürdiges Vertrauen der Klägerin stand der Aufhebung der Leistungsbewilligungen nicht entgegen. Diese beruhten nach den revisionsgerichtlich nur eingeschränkt überprüfbaren Feststellungen des LSG auch im vorliegenden Verfahren auf Angaben, die die Klägerin grob fahrlässig unrichtig bzw unvollständig gemacht hat. Durchgreifende Revisionsrügen sind insoweit nicht erhoben worden. Die Klägerin hat in keinem der Anträge auf Bewilligung von Alg II den Bezug der Altersrente angegeben. Schlechte deutsche Sprachkenntnisse hindern den Vorwurf der groben Fahrlässigkeit ebenso wenig wie die Angabe einer Rente vor der Ausreise im Generalkonsulat der Bundesrepublik Deutschland bzw ihre Angabe gegenüber dem Sozialhilfeträger, sie habe bislang von Rente ihren Lebensunterhalt bestritten.
Schließlich steht der Rücknahme der Bewilligungsbescheide und der Erstattung auf Grundlage des § 50 SGB X auch im vorliegenden Fall nicht die Erfüllungsfiktion des § 107 Abs 1 SGB X entgegen. Dem auch hier allein denkbaren Erstattungsanspruch des Jobcenters gegen den beigeladenen Sozialhilfeträger nach § 105 SGB X steht § 105 Abs 3 SGB X entgegen. Denn an der erforderlichen positiven Kenntnis der Leistungspflicht des Beigeladenen während des streitbefangenen Zeitraums fehlt es bereits deshalb, weil die Klägerin im Jahr 2004 auch gegenüber dem Sozialhilfeträger nicht den laufenden Bezug einer (Alters-)Rente angegeben hatte, die für ihre Zuordnung zum System des SGB XII (und nicht des SGB II) maßgeblich gewesen war. Allein die Angabe, sie habe vor Beantragung der Sozialhilfe von einer Rente gelebt, verschaffte dem Sozialhilfeträger die erforderliche positive Kenntnis nicht.


4) 13.00 Uhr – B 7/14 AS 63/21 R – W. A. ./. Jobcenter Rhein-Berg
beigeladen: Landschaftsverband Rheinland


Vorinstanzen:
Sozialgericht Köln – S 19 AS 1120/17, 23.10.2017
Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen – L 2 AS 2217/17, 29.06.2021


Auf Hinweis des Senats, dass er beabsichtige, sich der Entscheidung des 4. Senats des Bundessozialgerichts vom 5. August 2021 (Aktenzeichen B 4 AS 58/20 R) anzuschließen, hat der Kläger die Revision zurückgenommen.

Quelle: Bundessozialgericht, Pressemitteilung vom 9. Dezember 2022

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