
Der Verfassungsschutzbericht 2024 warnt vor einer besorgniserregenden Zunahme rechtsextremer Tendenzen unter Jugendlichen, insbesondere durch digitale Radikalisierung in sozialen Netzwerken. Die politisch motivierte Kriminalität stieg in Mecklenburg-Vorpommern 2024 um fast 75 % – vor allem im rechtsextremen Bereich – und stellt laut Innenminister Pegel eine ernste Gefahr für Demokratie und gesellschaftlichen Zusammenhalt dar.
Mecklenburg-Vorpommerns Innenminister Christian Pegel hat heute mit dem Leiter der Verfassungsschutzabteilung Thomas Krense den Verfassungsschutzbericht 2024 vorgestellt. Der Bericht zeichnet ein besorgniserregendes Bild: Extremistische und insbesondere rechtsextreme Tendenzen gewinnen unter Jugendlichen wieder verstärkt an Boden – getragen von der Dynamik sozialer Medien.
Der Bericht hebt hervor, dass junge Menschen durch extremistische Inhalte in sozialen Medien gefährdet sind. „Radikalisierung geschieht zunehmend unbemerkt und in einem zum Teil neuartigen rasanten Tempo – Extremisten nutzen gezielt Unsicherheiten aus, um junge Menschen zu vereinnahmen“, erklärt Innenminister Christian Pegel bei der Vorstellung in Schwerin. Der digitale Raum sei dabei zu einem zentralen Radikalisierungs- und Vernetzungsfeld geworden – ob für Rechtsextreme, Islamisten oder Linksextreme.
Besonders alarmierend ist die Entwicklung rechtsextremer Jugendnetzwerke, die sich fast unsichtbar im digitalen Raum selbst radikalisieren und organisieren. „Was wir derzeit beobachten, ist eine neue, beunruhigende Szene sehr junger Rechtsextremer“, sagt Pegel und weiter: „Diese Gruppen agieren extrem digital, ideologisch radikalisiert und mit wachsender Gewaltbereitschaft. Was früher im Hinterhof stattfand, geschieht heute in verschlüsselten Chats, TikTok-Kommentaren und Telegram-Kanälen – oft unbemerkt von Eltern und Lehrkräften.“
Gleichwohl sind an vielen Orten kleine Gruppen von Jugendlichen im Stile der „Skinhead-Kultur“ der 90er-Jahre zu verorten.
Der Innenminister warnt eindringlich vor einer wachsenden Radikalisierung in einem Alter, das bisher als weniger anfällig galt: „Es ist erschreckend, wie erfolgreich rechtsextreme Ideologien bei Kindern und Jugendlichen verfangen. Das Gift wird längst in den Köpfen verteilt – über Likes, Memes und digitale Hetze“, so Pegel. „Unsere Demokratie stirbt nicht mit einem Knall, sondern mit einem Klick, wenn wir nicht entschieden gegensteuern.“
Die Zahlen untermauern seine Warnung: Die politisch motivierte Kriminalität im Land stieg 2024 um fast 75 Prozent im Vergleich zum Vorjahr auf 3.317 Straftaten an – ein historischer Höchststand. Davon entfallen 2.184 Fälle auf den rechtsextremen Bereich (+59 Prozent) und 361 Fälle auf den linksextremen Bereich (+115 Prozent). Besonders erschreckend: Mit insgesamt 287 Fällen deutlich mehr Hasspostings. 2024 verzeichnete Mecklenburg-Vorpommern erneut einen Anstieg antisemitischer Straftaten.
Die Zahl stieg um 4,2 Prozent auf insgesamt 124 Fälle (2023: 115). Der überwiegende Teil dieser Straftaten ist dem Bereich der politisch motivierten Kriminalität -rechts- zuzuordnen (109 Fälle).
Antisemitismus ist jedoch nicht nur ein Problem des Rechtsextremismus. Der Verfassungsschutz beobachtet zunehmend ähnliche Tendenzen auch innerhalb der Reichsbürger- und Selbstverwalter-Szene, im Linksextremismus, im Islamismus sowie im auslandsbezogenen Extremismus. Antisemitismus wirkt dabei als ideologisches Bindeglied, das unterschiedliche extremistische Strömungen vereint. Dies zeigt sich besonders bei deutschlandweiten gemeinsamen Aktionen, an denen linksextremistische Gruppen, islamistische Akteure und Vertreter des auslandsbezogenen Extremismus beteiligt sind. Solche Überschneidungen waren auch 2024 in Mecklenburg-Vorpommern feststellbar. Im Rahmen des Protestgeschehens wurde die Schwelle zum offenen Antisemitismus jedoch nicht überschritten.
Mit rund 1.950 Personen (2023: 1.855) stellt der Rechtsextremismus den größten Anteil am extremistischen Personenpotenzial in Mecklenburg-Vorpommern dar – mehr als 54 Prozent. Die Szene ist laut Bericht heterogen: von parteiungebundenen Neonazis über Subkulturen, Kampfsportveranstaltungen bis hin zu digitalen Chatgruppen.
„Wir bemerken hierbei vermehrt Aufrufe zur Gewalt, Hetze gegen Minderheiten wie Migranten oder der LGBTQ+-Community- und das alles in einer Geschwindigkeit und Reichweite, die vor wenigen Jahren noch undenkbar war. Das alles geschieht insbesondere, weil diese Menschengruppen nicht in das eigene Weltbild passen und als Opfer angesehen werden, die wahrnehmbar sind“, sagt Christian Pegel weiter.
Die Szene der sogenannten „Reichsbürger“ und „Selbstverwalter“ bleibt mit 690 Personen stabil, verbreitet Verschwörungsideologien und lehnt die staatliche Ordnung fundamental ab. Auffällig dabei ist jedoch eine zunehmende Strukturierung. Einzelne Gruppierungen gewinnen dadurch zunehmend an Bedeutung. Die Gewalt gegen Polizei und Vollstreckungsbeamte bleibt weiterhin ein reales Risiko. „Wir beobachten mit Sorge, dass sich diese Gruppen zunehmend professioneller auf digitalen Plattformen präsentieren und auch jüngere Zielgruppen ansprechen“, so Pegel.
Das linksextreme Personenpotenzial liegt bei 440 Personen (2023: 430). „Antifaschismus, Antimilitarismus und Antirepression dominieren das Spektrum, doch Gewalt gegen staatliche Einrichtungen und Polizei bleibt ein zentrales Mittel radikaler Gruppen“, sagt der Innenminister. Gleichzeitig gebe es interne Konflikte innerhalb der Szene, etwa bei der Haltung zu internationalen Konflikten.
Rund 180 Personen (2023: 180) werden der islamistischen Szene zugerechnet, vor allem salafistischen Netzwerken in Rostock und Güstrow. Der Bericht verweist auf radikalisierte Einzeltäter und die gezielte Nutzung sozialer Medien zur Indoktrinierung Jugendlicher. Sympathien für HAMAS blieben 2024 im Nordosten auf den digitalen Raum beschränkt.
Mit 295 (2023: 295) Personen, davon 270 Anhänger der „Arbeiterpartei Kurdistans“ (PKK), bleibt auslandsbezogener Extremismus ein weiteres relevantes Beobachtungsfeld.
Zunehmend ist Mecklenburg-Vorpommern auch Ziel internationaler Spionageaktivitäten, Cyberangriffe und hybrider Einflussnahmen. „Wir erleben eine neue Qualität der Bedrohung – subtil, technisch hochentwickelt, politisch gesteuert“, erklärt Minister Pegel. Besonders Akteure aus Russland, China, aber auch aus dem Iran nutzten gezielt Desinformation, Hacking und wirtschaftsnahe Spionage, um das Vertrauen in unsere Institutionen zu erschüttern. 2024 wurde beim Verfassungsschutz Mecklenburg-Vorpommern ein Single Point of Contact für die Koordination entsprechender Abwehrmaßnahmen eingerichtet. In diesem Zusammenhang wurde von dort aus das „MV-Forum Hybrid“ aufgebaut. Vertreterinnen und Vertreter der Ministerien, Behörden und Kommunalverwaltungen werden dort bei der Erkennung und Abwehr von Angriffen unterstützt. Ebenso trägt der Verfassungsschutz zum Schutz unserer Wirtschaft und Forschung bei.
„Diese hybriden Angriffe treffen uns im Kern. Wenn sie erfolgreich sind, verlieren wir mehr als Daten – wir verlieren Vertrauen, Zusammenhalt und Sicherheit“, mahnt der Minister. Um auf diese Herausforderungen zu reagieren, baut das Land derzeit ein eigenes Drohnenabwehr-Zentrum auf, verstärkt die Cyberabwehr und investiert in Frühwarnsysteme für kritische Infrastrukturen.
Doch Technik allein reiche nicht, betont Innenminister Christian Pegel: „Wir brauchen eine gesellschaftliche Kraftanstrengung. Eltern, Lehrkräfte, Vereine – alle sind gefordert, junge Menschen zu stärken. Wir müssen ihnen zeigen, dass Demokratie nicht schwach ist, sondern mutig, klar und menschlich. Wir dürfen nicht zulassen, dass Hass, Hetze und Einschüchterung zur Normalität werden – weder auf der Straße noch im Netz. Wer unsere freiheitliche Ordnung angreift, muss mit aller Konsequenz des Rechtsstaats rechnen.“
Eine besondere Stellung nehmen in der Bewertung Extremisten im öffentlichen Dienst ein. „Wer unsere freiheitliche demokratische Grundordnung ablehnt, kann nicht gleichzeitig Teil des Staates sein, der genau diese Grundordnung schützt und trägt. Deshalb gilt: Extremisten – gleich welcher Ausrichtung – haben im öffentlichen Dienst nichts verloren. Wir nehmen jeden Hinweis auf verfassungsfeindliche Bestrebungen sehr ernst und gehen diesen mit aller Konsequenz nach. Die Loyalität gegenüber der Verfassung ist keine bloße Formalie, sondern Voraussetzung für das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in unsere Institutionen. Gerade im Sicherheitsbereich, bei Polizei, Justiz und Verwaltung, muss jederzeit klar sein, dass die handelnden Personen auf dem Boden des Grundgesetzes stehen. Wer etwa rechtsextreme Inhalte verbreitet, Reichsbürger-Ideologien anhängt oder Gewalt gegen den Staat propagiert, darf nicht Teil seiner Strukturen sein“, verdeutlicht Innenminister Christian Pegel.
In Mecklenburg-Vorpommern wurden im Lagebild ‚Rechtsextremisten, Reichsbürger und Selbstverwalter in Sicherheitsbehörden im zweijährigen Berichtszeitraum 1. Januar 2023 bis 31. Dezember 2024 insgesamt drei neue Fälle aufgeführt (ein Fall Rechtsextremismus, zwei Fälle Reichsbürger und Selbstverwalter).
„Die Ausführungen zeigen, dass der Verfassungsschutzbericht 2024 mehr ist als eine statistische Momentaufnahme – er ist ein Weckruf. Für Politik, Sicherheitsbehörden, aber vor allem für uns als Gesellschaft: gegen Gleichgültigkeit, gegen digitale Radikalisierung, gegen die schleichende Erosion der demokratischen Werte. Unsere wehrhafte Demokratie lassen wir nicht zerstören. Wir werden weiterhin frühzeitig Gefahren ansprechen und ihnen auf allen rechtstaatlichen Wegen begegnen „, appelliert Innenminister Christian Pegel.
IM M-V, 10.07.2025