Verfassungsexperten halten die durch einen EU-Ratsbeschluss geforderte Einführung einer Sperrklausel bei den Europawahlen in Deutschland mehrheitlich für zulässig. Ob diese allerdings über das unionsrechtlich geforderte Minimum von zwei Prozent hinausgehen darf und das dafür notwendige Zustimmungsgesetz Bundestag und Bundesrat mit einer Zweidrittel-Mehrheit passieren muss, war am Montagnachmittag in einer öffentlichen Anhörung des Europaausschusses umstritten. 

Der Rat der Europäischen Union hatte am 13. Juli 2018 eine Änderung des Europäischen Direktwahlakts (DWA) beschlossen. Der sogenannte Direktwahlakt 2018 (DWA 2018) sieht die Einführung einer Sperrklausel für die Wahlen zum Europäischen Parlament in einer Spannbreite von zwei bis fünf Prozent vor. Sowohl die Bundesregierung als auch die Unionsfraktion haben dazu jeweils gleichlautende Entwürfe für ein Zustimmungsgesetz (20/682120/4045) vorgelegt. Ein weiterer Gesetzentwurf (20/4046) der Union zielt auf eine entsprechende Änderung des Europawahlgesetzes (EuWahlG).

Im Mittelpunkt der Debatte über die Notwendigkeit einer Zweidrittelmehrheit standen zwei Urteile des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 2011 und 2014. Ihnen zufolge sind Sperrklauseln bei den Europawahlen unvereinbar mit dem Grundgesetz, vorher vorhandene Mindestschwellen wurden daraufhin gekippt. 

Vor diesem Hintergrund sei klar, dass eine Zweidrittelmehrheit für die Umsetzung des DWA 2018 in nationales Recht nötig ist, betonte Bernd Grzeszick von der Ruprecht-Karls-Universität in Heidelberg. Denn die vom Rat beschlossene Sperrklausel sei „in der Sache eine materielle verfassungsrechtliche Änderung“. Diesen Standpunkt vertrat auch Patrick Hilbert von der Universität Münster. Da der Direktwahlakt Primärrecht sei und damit eine Änderung der vertraglichen Grundlagen der Union vorliege, würde auch das Grundgesetz seinem Inhalt nach geändert. Daher müsse das Zustimmungsgesetz gemäß Artikel 23 Abs. 1 Satz 3 Grundgesetz ein verfassungsänderndes sein. 

Demgegenüber sahen Heiko Sauer von der Universität Bonn und Franz C. Mayer von der Universität Bielefeld dafür keine Notwendigkeit. Mit dem DWA 2018 würde nicht der Inhalt des Grundgesetzes geändert, argumentierte Sauer. Die Auslegungen des Bundesverfassungsgerichts seien etwas anderes als das, was tatsächlich im Grundgesetz stehe. Mayer urteilte, man sei „in einen Modus geraten, wo man fast immer automatisch zur Zweidrittelmehrheit greift“. Sie nun jedes Mal für einzelne Elemente der Weiterentwicklung des Europarechts als selbstverständlich anzusehen, sei problematisch. Die Bundesrepublik habe die Zweidrittelhürde mit ihrer Zustimmung zum Vertrag von Lissabon für eine ganze Reihe von Themen bereits gemeistert.

Ulrich Vosgerau von Universität Köln nannte die Debatte über die Zweidrittelmehrheit überflüssig, da die Einführung einer Sperrklausel in Deutschland auch im dritten Anlauf scheitern werde. Das Bundesverfassungsgericht habe sie, anders als in den Gesetzentwürfen von Union und Bundesregierung dargestellt, nicht abgelehnt, weil es dazu keine europäische Vorgabe gebe. Es habe sie vielmehr als gewaltigen Grundrechtseingriff angesehen. „Jede Hürde im Wahlrecht führt dazu, dass die Stimmen von Hunderttausenden Wahlberechtigten vom Tisch fallen“, sagte Vosgerau. Während die Sperrklausel bei der Bundestagswahl unter anderem damit gerechtfertigt worden sei, dass „der Bundestag die Regierung trägt“, falle diese starke verfassungsrechtliche Begründung auf europäischer Ebene aus. 

Uneinigkeit bestand auch in der Frage, wie hoch die Sperrklausel sein darf und ob die Bundesrepublik sie bereits bei der kommenden Europawahl 2024 anwenden kann. Laut Ratsbeschluss wird den Mitgliedstaaten vorgegeben, der Verpflichtung zur Einführung einer Sperrklausel spätestens für die übernächste Parlamentswahl nach dem Inkrafttreten des Ratsbeschlusses nachzukommen. 

Heiko Sauer sagte, vor 2029 sei die Sperrklausel unionsrechtlich nur erlaubt und nicht geboten. Sollte sie früher zur Anwendung kommen oder über das Minimum von zwei Prozent hinausgehen, ändere sich an ihrer Unzulässigkeit aus verfassungsrechtlicher Sicht nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts daher zunächst nichts, warnte er. Ähnlich äußerte sich Patrick Hilbert. 

Bernd Grzesick vertrat indes die Ansicht, der Direktwahlakt ermögliche es den Mitgliedstaaten schon jetzt, voranzuschreiten. Sie verfügten über einen originär unionsrechtlich eingeräumten und verfassungsrechtlich nicht weiter eingeengten Spielraum. Die Einführung einer mindestens zweiprozentigen Sperrklausel nannte er zudem einen entscheidenden Beitrag gegen die Zersplitterung der deutschen Interessensvertretung im Europäischen Parlament. Bei der Europawahl 2019 seien Abgeordnete aus 14 deutschen Parteien ins Europäische Parlament eingezogen. 

Auch für Franz C. Mayer besteht kein verfassungsrechtlicher Anlass für die Beschränkung auf zwei Prozent oder eine Umsetzung erst in 2029. Die Vorgabe des Rates von zwei bis fünf Prozent könne nach europapolitischen Gesichtspunkten ausgeschöpft werden. Was solle passieren, wenn die zwei Prozent nicht reichten, fragte er, „wollen wir dann jedes Mal das große Rad mit verfassungsändernden Mehrheiten anwerfen?“ Zu den gebotenen Mindestabständen zwischen Wahlrechtsänderungen und Europawahlen verwies Mayer grundsätzlich auf die Jahresfrist nach den Empfehlungen der Venedig-Kommission. Diese seien allerdings nicht rechtsverbindlich und auch nicht sonderlich funktional ausdifferenziert.

(c) HiB Nr. 427, 12.06.23

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