Der Verwaltungsgerichtshof (VGH) hat mit Urteil vom 22. Februar 2023 die Bundesrepublik Deutschland verpflichtet festzustellen, dass ein junger, alleinstehender und erwerbsfähiger Afghane (Kläger) nicht nach Afghanistan abgeschoben werden darf. Dagegen hat er dessen Klage auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft oder subsidiären Schutzes abgewiesen. Es handelt sich um das erste Urteil des VGH nach dem Machtwechsel in Afghanistan und daher um eine Grundsatzentscheidung.

Der 11. Senat des VGH führt in den Gründen des Urteils aus: Der Kläger hat sein Herkunftsland verlassen, ohne dort asylrechtlich relevanter Verfolgung ausgesetzt gewesen zu sein. Rückkehrern aus dem westlichen Ausland droht nicht allein deshalb Verfolgung durch die Taliban oder die afghanische Aufnahmegesellschaft, weil sie aus Afghanistan ausgereist sind, längere Zeit in einem nicht muslimisch geprägten Land gelebt und dort einen Asylantrag gestellt haben, es sei denn, es liegen besondere, individuell gefahrerhöhende Umstände vor. Daher hat der Klä-ger keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft oder subsidiären Schutzes.

Jedoch sind derzeit angesichts der prekären Lebensverhältnisse in Afghanistan selbst im Fall eines leistungsfähigen, erwachsenen Mannes ohne Unterhaltsverpflichtungen bei Rückkehr aus dem westlichen Ausland die hohen Anforderungen eines nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG in Verbindung mit Art. 3 EMRK regelmäßig erfüllt, wenn in seiner Person keine besonderen begünstigenden Umstände vorliegen. Derartige Umstände können insbesondere dann gegeben sein, wenn der Schutzsuchende in Afghanistan ein tragfähiges und erreichbares familiäres oder soziales Netzwerk hat, er hinreichende finanzielle o-der materielle Unterstützung durch Dritte erfährt oder über ausreichendes Vermögen verfügt. Ein tragfähiges familiäres oder soziales Netzwerk ist dann gegeben, wenn bei Rückkehr des Betreffenden nach Afghanistan Verwandte oder sonstige Dritte bereit und tatsächlich in der Lage sind, ihn in einem solchem Umfang zu unterstützen, dass seine elementarsten Bedürfnisse („Bett, Brot, Seife“) über ei-nen absehbaren Zeitraum befriedigt werden können. Der Kläger verfügt jedoch in Afghanistan über kein tragfähiges familiäres oder soziales Netzwerk, das bereit und in der Lage wäre, ihn im Falle einer Rückkehr zu unterstützen. Er hat auch keinen Kontakt zu Personen, die ihn vom Ausland aus alimentieren würden. Ebenso wenig verfügt er über relevantes Vermögen. Daher ist die Bundesrepublik Deutschland vom VGH mit dem Urteil verpflichtet worden festzustellen, dass zugunsten des Klägers ein nationales Abschiebungsverbot besteht.


Die Revision zum Bundesverwaltungsgericht wurde nicht zugelassen. Die Nichtzulassung der Revision kann innerhalb eines Monats nach Zustellung des schriftlichen Urteils durch Beschwerde zum Bundesverwaltungsgericht in Leipzig angefochten werden (Az. A 11 S 1329/20)

Quelle: VGH Baden-Württemberg, Pressemitteilung vom 7. März 2023

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