Die Forschung zum Schicksal verfolgter queerer Menschen während der Zeit des Nationalsozialismus soll nach Ansicht von Fachleuten deutlich gestärkt und gefördert werden. Entsprechend äußerten sich unisono die zu einer öffentlichen Anhörung am Montagmorgen geladenen Sachverständigen im Rechtsausschuss. Gegenstand der Anhörung war ein Antrag der Fraktion Die Linke unter dem Titel „Die ‚vergessenen‘ queeren Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung“ (20/5359). Der Bundestag hatte am 27. Januar 2023 im Rahmen der Gedenkstunde zum Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus erstmalig die Verfolgten sexueller Minderheiten in den Mittelpunkt gestellt.

Die Leiterin der Gedenkstätte der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück, Andrea Genest, betonte die Bedeutung des Gedenkens an die queeren Opfer der NS-Zeit. Die Anerkennung sei wichtig für all jene, „die selbst Verfolgung und Ungerechtigkeit erlebt haben“, ebenso für Familien und Angehörige, „die weiter von der gesellschaftlichen Ausgrenzung geprägt sind“, sowie im Allgemeinen, „um das Wirken des Nationalsozialismus in der Gesellschaft besser zu verstehen“. 78 Jahre nach der Befreiung vom Nationalsozialismus stünden wir vor der Tatsache, „dass es uns an elementarer Forschung fehlt, um die Fragen beantworten zu können, die uns heute beschäftigen“. Die auf Vorschlag der Fraktion Die Linke eingeladene Sachverständige hob hervor, dass jede Initiative, die historische Forschung ermöglicht, wichtig sei und die Forschung auch befördern werde. Gedenken brauche „historisches Wissen“, sagte Genest.

Rainer Herrn von der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft hob ebenfalls die Notwendigkeit weiterer Forschungsarbeiten und der Verankerung queerer Geschichtsforschung im akademischen Betrieb hervor. So sei das Schicksal homosexueller Männer vergleichsweise gut erforscht, die „subtilere, aber nicht weniger effektive“ Stigmatisierung und Verfolgung lesbischer Frauen hingegen weit weniger. Zur Verfolgung von trans- und intersexuellen Menschen gebe es nur sehr wenige Arbeiten. Der auf Vorschlag der FDP-Fraktion eingeladene Sachverständige erinnerte zudem an die Bedeutung und das historische Wirken des von Hirschfeld gegründeten Instituts für Sexualwissenschaft. „Das historische Zusammendenken und Leben dieser großen Schicksalsgemeinschaft sich nicht an die zeitgenössischen Geschlechterstereotypen haltender Menschen berechtigt uns heutige im übertragenen Sinne von einer queeren Community zu sprechen“, sagte Herrn.

Der Historiker Bodie A. Ashton von der Universität Erfurt führte zur Verfolgungspraxis im NS-Staat und der daraus resultierenden Unsichtbarkeitmachung queerer Opfer aus. Queere Menschen würden „durch den entmenschlichenden Wortschatz des NS-Justizapparats ausradiert“, sagte Ashton. So seien viele trans- und geschlechtlich non-konforme Menschen unter dem sogenannten Sodomie-Paragrafen (Paragraf 175 Strafgesetzbuch) verurteilt worden, der sexuelle Handlungen zwischen Männern unter Strafe stellte. Die NS-Behörden hätten ihnen unabhängig von ihrer tatsächlichen Sexualität eine unterschwellige Homosexualität unterstellt. Der auf Vorschlag der SPD-Fraktion eingeladene Sachverständige wies darauf hin, dass die Anerkennung der queeren Opfer, etwa lesbischer Frauen, auch deshalb unterblieb, weil sie zwar ob ihrer queeren Identität verfolgt, aber wegen anderer Dinge verurteilt worden seien. 

Die Historikerin Anna Hájková von der University of Warwick forderte in diesem Sinne, queere Menschen intersektional zu lesen, um ihre Verfolgung zu verstehen. Induktive historische Arbeiten zeigten, dass eine Trennung der Verfolgungskategorien vieles an der Geschichte verdecke, sagte die Wissenschaftlerin. Kritisch zeigte sie sich gegenüber der bisherigen Forschungspraxis. So seien die Zeugnisse der queeren Opfer nicht gesammelt worden. „Es war unmöglich, die eigene Geschichte zu erzählen, wenn man quasi als historischer Abfall galt“, sagte die auf Vorschlag der SPD-Fraktion eingeladene Sachverständige. Hájková warb zudem dafür, auch Forschung außerhalb Deutschlands zu den Themenkomplexen wahrzunehmen. 

Henny Engels vom Lesben- und Schwulenverband in Deutschland erinnerte an das Engagement der Zivilgesellschaft. Ohne dieses lang anhaltende Engagement hätte es die Gedenkstunde im Bundestag nicht gegeben. „Über Jahre hat der Bundestag es verweigert, sich der queeren Opfer anzunehmen“, kritisierte Engels. Das sei besonders tragisch, denn viele Opfer seien inzwischen verstorben. Sie forderte zudem, über das jährliche Gedenken im Bundestag hinaus eine regionale und kommunale Verbreitung des Erinnerns an alle Opfergruppen. Ein Schlussstrich könne und dürfe nicht gezogen werden, sagte die auf Vorschlag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen eingeladene Sachverständige. Es reiche zudem nicht aus, zu erinnern, sondern es müsse auch geklärt werden, welche Verantwortung sich daraus für den Bundestag, die Politik und die Zivilgesellschaft ergebe. 

Die Rechtswissenschaftlerin Sina Fontana von der Universität Augsburg erinnerte an die Fortwirkung der Stigmatisierung im Recht nach Ende des NS-Regimes. Der von den Nationalsozialisten verschärfte Paragraf 175 Strafgesetzbuch sei etwa in Westdeutschland 1969 und 1973 reformiert und erst 1994 abgeschafft worden. Auch bei der Formulierung des Diskriminierungsverbots in Artikel 3 Absatz 3 Grundgesetz in Reaktion auf die Verfolgung während der NS-Zeit seien queere Personen nicht aufgenommen worden, auch wenn die Diskriminierung aufgrund des Geschlechts inzwischen anders ausgelegt werde. Sie warb für eine Ergänzung des Artikels. „Ist es nicht Zeit, das nachzuholen, und endlich dafür zu sorgen, dass dieses ‚Nie wieder!‘ jetzt auch im Normentext des Grundgesetzes Verankerung findet?“, fragte die auf Vorschlag der SPD-Fraktion eingeladene Sachverständige. 

Das Video zur Anhörung, die Stellungnahmen der Sachverständigen sowie weitere Informationen zum Antrag der Fraktion Die Linke: https://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2023/kw21-pa-recht-queere-opfer-948392

©️ HiB Nr. 372

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