Einigkeit über das Ziel, aber nicht den Weg dahin zeigte sich bei einer Anhörung im Rechtsausschuss am Mittwoch, 10. Mai 2023, über einen Antrag der Unionsfraktion mit dem Titel „Wirksame Regelungen zur Bewältigung von Massenverfahren schaffen“ (20/5560). In diesem werden Maßnahmen vorgeschlagen, um die Belastung der Ziviljustiz durch Massenverfahren im Kapitalanlage-, Verbraucherschutz-, Versicherungs- und Fluggastrecht zu verringern. Diese Belastung nehme seit Jahren zu und habe ein Ausmaß erreicht, „das deren Funktionsfähigkeit ernsthaft gefährdet“, heißt es in dem Antrag.

Charlotte Rau, Richterin am Oberlandesgericht Frankfurt am Main, bestätigte diese Einschätzung. Es bestehe „dringender Handlungsbedarf, damit die Ziviljustiz dauerhaft auf Augenhöhe mit spezialisierten Rechtsdienstleistern arbeiten und ihren Auftrag der Gewährung effektiven Rechtsschutzes erfüllen kann“.

Rau begrüßte ebenso wie Peter Allgayer, Richter am Bundesgerichtshof, Vorschläge in dem Antrag, Verfahren höherer Instanzen zu beschleunigen und bis zu deren Entscheidung unteren Instanzen das Aussetzen ähnlich gelagerte Fälle zu ermöglichen. Daneben begrüßte Allgayer Vorschläge, um Verfahren unterer Instanzen zu vereinfachen und beschleunigen, etwa die Möglichkeit, die Ergebnisse von Beweisaufnahmen aus anderen Verfahren zum gleichen Sachverhalt mit heranzuziehen.

Auch der Freiburger Rechtswissenschaftler Alexander Bruns maß in seiner Stellungnahme einer „Beschleunigung höchstgerichtlicher Klärung von Rechtsfragen, die in massenhaft eingeleiteten Parallelverfahren typischerweise gleichförmig entscheidungserheblich sind“, besondere Bedeutung bei. Ebenso wie Allgayer begrüßte Bruns im Großen und Ganzen die im Unionsantrag enthaltenen Vorschläge zur Entlastung der Justiz. So sollte es erstinstanzlichen Gerichten auch ohne Zustimmung der streitenden Parteien möglich sein, ein Verfahren einer höheren Instanz zur Entscheidung vorzulegen.

Kritischer bewertete Sina Dörr, Richterin am Landgericht Bonn, den Antrag. Es gelte, „nicht nur die Symptome des Überlastungseffekts zu adressieren, sondern dessen Ursachen zu beheben“. Solche seien die unzulängliche Digitalisierung und „das Fehlen eines modernen individuellen und kollektiven Verfahrensdesigns“. Darauf gehe der Antrag aber „nur bedingt“ ein, stellte Dörr fest. Digitale Systeme, welche die Gerichte erheblich entlasten könnten, seien am Markt vorhanden. Dörr drängte darauf, die institutionellen Voraussetzungen für eine zeitgemäße Digitalisierung der Justiz zu schaffen

Der Vorsitzende des Legal Tech Verbands, Philipp Plog, pflichtete dem bei. Deutschland habe bei der Digitalisierung der Justiz zehn bis 15 Jahre Rückstand. Der Antrag der CDU/CSU-Fraktion schränke die „prozessualen Rechte und die Autonomie von Rechtsuchenden“ ein, ohne die „strukturelle Krise der Justiz“ zu beheben. Diese beruhe darauf, dass „die Bundespolitik die Richterschaft und ihre Verwaltung in den letzten Jahren völlig unzureichend mit finanziellen Mitteln, Personal, Technologie und Prozessen ausgestattet“ habe.

Roland Kempfle vom Deutschen Richterbund wandte dagegen ein, dass auch die Digitalisierung Zeit brauche. So sei dafür hochqualifiziertes Fachpersonal erforderlich, das nicht so einfach rekrutiert werden könne. Die Gerichte könnten darauf nicht warten. Kempfle rechnet mit einer weiteren signifikanten Zunahme von Massenverfahren, unter anderem wegen der Aktivitäten von „Prozessfinanzierern und anderen renditeorientierten Dritten“.

Überwiegend kritisch bewertete der Hamburger Rechtsanwalt Marcus P. Lerch die Vorschläge der Union. So drohe bei der beschleunigten höchstrichterlichen Klärung eine „Überbeschleunigung“, die durchaus zu Lasten klagender Bürger gehen könne. Auch in Massenverfahren wie beim Dieselskandal gebe es sehr unterschiedlich zu beurteilende Einzelfälle. Durch eine zu frühe höchstrichterliche Entscheidung könne die notwendige Differenzierung unterbleiben.

Eine Lanze für Massenklagen brach der Passauer Rechtswissenschaftler Thomas Riehm. Sie dienten der flächendeckenden Durchsetzung bestehender Rechte, erhöhten damit den Anreiz der Beklagtenseite, sich rechtskonform zu verhalten, und dienten so insgesamt dem Rechtsstaat. Die im Unionsantrag vorgeschlagenen Eingriffe in das Verfahrensrecht gingen jedoch zu Lasten der Einzelfallgerechtigkeit, was sich „sowohl zulasten der Klägerseite als auch zulasten der Beklagtenseite auswirken würde“. So könnte das Aussetzen erstinstanzlicher Verfahren bis zu einer höchstrichterlichen Entscheidung dazu führen, dass jahrelang der Rechtsschutz verweigert wird.

Deutlich wurde in der Anhörung, dass die Überlastung der Justiz zu einem erheblichen Teil auf immer umfangreichere Schriftsätze bei Massenverfahren zurückzuführen ist. Aufgrund der Verwendung von Textbausteinen durch die Kanzleien nähmen diese oft hunderte Seiten ein, aus denen die Gerichte die für den Einzelfall relevanten Informationen mühsam herausfiltern müssten. Wie im Unionsantrag vorgeschlagen sollten Gerichte verlangen können, dass die Prozessparteien solche Schriftsätze strukturieren und im Umfang begrenzen, erklärte die Richterin Charlotte Rau übereinstimmend mit mehreren anderen Sachverständigen.

Quelle: HiB Nr. 347 vom 10. Mai 2023

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