Vorschläge der EU-Kommission waren unter den Sachverständigen umstritten, als es im Ausschuss für Inneres und Heimat am Montagnachmittag um die „Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems“ (GEAS) ging. Auf der Tagesordnung der öffentlichen Anhörung unter Leitung des stellvertretenden Vorsitzenden Lars Castellucci (SPD) standen zudem ein Antrag der CDU/CSU-Fraktion (20/684) und zwei Vorlagen der Fraktion Die Linke (20/681 und 20/8582).

Raphael Bossong (Stiftung Wissenschaft und Politik, Deutsches Institut für Internationale Politik und Sicherheit, Berlin) befand, der langfristige Trend in der EU-Migrations- und Asylpolitik zu mehr Grenzschutz- und Rückführungsmaßnahmen setze sich fort, unterstützt durch neue Koalitionen zwischen süd- und nordosteuropäischen Staaten. Zeitlich und inhaltlich klar definierte Einschränkungen von Asylverfahren seien vertretbar, wenn im Gegenzug die Einhaltung von Grundrechten in Krisenlagen tatsächlich gestärkt werde. Die Zusammenarbeit mit Drittstaaten zur Migrationssteuerung und zur Versorgung von Schutzsuchenden sei unerlässlich.

Nach Ansicht von Felix Braunsdorf (Ärzte ohne Grenzen, Berlin) bergen die Vorschläge der EU-Kommission die Gefahr, den Ausnahmezustand an den EU-Außengrenzen und Abweichungen vom geltenden Recht zu institutionalisieren. Die EU und ihre Mitgliedsstaaten stünden in den nächsten Monaten vor dieser Wahl: Entweder nähmen sie Schäden für das Leben und die Gesundheit der Menschen auf der Flucht weiterhin wissentlich in Kauf, um ihre Abschreckungs- und Externalisierungsstrategie weiter auszubauen. Oder sie leiteten eine Abkehr von dieser Politik hin zu einer humanen Migrations- und Grenzpolitik ein. Das Wissen dazu sei vorhanden.

Beate Gminder (Task Force Migrationsmanagement, EU-Kommission, Brüssel) meinte, es sei unerlässlich, dass die Mitgliedsstaaten gemeinsame legale operative Lösungen fänden. Dazu zählte sie die Stärkung des Grenzschutzes an den Außengrenzen unter anderem durch mehr Personenkontrollen und bessere IT-Systeme. Wichtig sei nicht zuletzt eine Zusammenarbeit mit Drittländern, um die Fluchtursachen zu bekämpfen.

Wiebke Judith (PRO ASYL, Frankfurt am Main) strich als Ziel einer Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems heraus, für Rechtsstaatlichkeit und die Achtung von Menschenwürde und Menschenrechten von schutzsuchenden Menschen sowohl an den Außengrenzen als auch in den Mitgliedsstaaten zu sorgen. Die aktuell diskutierten Vorschläge der EU-Kommission gefährden nach Judiths Ansicht den Zugang zu Asyl in Europa und verschlechterten die Situation von Schutzsuchenden weiter. Die Pushbacks an den europäischen Außengrenzen seien gut dokumentiert. Trotzdem gebe es in der EU kaum politische Bestrebungen, hier wieder zur Achtung von Recht zu kommen.

Gerald Knaus (European Stability Initiative, Berlin) unterstrich, es gebe bei allen Überlegungen zur Reform des europäischen Asylsystems keine Alternative zu Kooperation mit Drittstaaten. Legale Angebote zu machen, sei der einzige Weg. Er verwies auf Staaten, die angesichts der gegenwärtigen Situation bereits die Rechtsstaatlichkeit aufgegeben hätten.

Ruud Koopmans (Institut für Sozialwissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin) setzte sich für die Ersetzung von irregulärer Fluchtmigration durch reguläre Migration ein. Ohne eine wirkungsvolle Einschränkung der irregulären Asylmigration könne man sich alle Gedanken über großzügige Aufnahmekontingente und humanitäre Visa sparen. Er regte mehr und wirkungsvollere Rücknahmeabkommen mit Herkunftsländern von Asylbewerbern an, insbesondere solchen mit geringen Anerkennungsquoten wie die westafrikanischen Länder. Die hätten zwar daran kein Interesse. Deshalb solle mit der Verpflichtung zur Wiederaufnahme von abgelehnten Asylbewerbern die Eröffnung von legalen Kontingenten für Arbeitsmigration verbunden werden.

Für Roman Lehner (Institut für Öffentliches Recht, Georg-August-Universität Göttingen) ist ein obligatorisches Screening-Verfahren an den Außengrenzen die eigentliche Innovation des Vorschlags der EU-Kommission. Es diene nicht nur der Identitätsfeststellung oder einer allgemeinen Sicherheitskontrolle, sondern auch als asylrechtliche Vorprüfung, die eine direkte Überführung in das allgemeine Außengrenzverfahren ermögliche. Er geht davon aus, dass es Mitgliedsstaaten gibt, die die für das Screening-Verfahren eingerichteten Transitzonen regelmäßig auch nutzen werden, um schon dort das Asylverfahren zum Abschluss zu bringen – dann nämlich, wenn ein Asylantrag von vornherein als unbegründet eingestuft werde, etwa bei Einreise aus einem sicheren Drittstaat oder bei Antragstellern aus einem sicheren Herkunftsland.

Josephine Liebl (European Council on Refugees and Exiles, Brüssel) lehnte das vorgeschlagene Grenzverfahren ab und äußerte ernsthafte Bedenken hinsichtlich der beabsichtigten Zusammenlegung von Asyl- und Rückführungsverfahren. Beides werde zu einer Zunahme der Inhaftierungen, zu Schutzlücken und einem erhöhten Risiko der Zurückweisung von Personen führen. Der Vorschlag solle angesichts der Reduzierung der Standards und der Komplexität, die ihn in der Praxis undurchführbar mache, aufgegeben werden. Er basiere auf einem Modell der Eindämmung an den Grenzen mit unverhältnismäßiger Verantwortung für die Ersteinreiseländer.

Daniel Thym (Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Europarecht und Völkerrecht, Universität Konstanz) meinte, die EU-Kommission setze eindeutig auf Grenzverfahren, die auf die bestehende Gesetzgebung und – nach seiner Ansicht vielfach defizitäre – Praxis der sogenannten Hotspots aufbauen, zugleich jedoch deutlich darüber hinausgingen. Die Grenzverfahren stünden im Zentrum der Kritik vor allem durch Nichtregierungsorganisationen, die davor warnten, dass der Zugang zum Asylrecht unterminiert werde und eine massenhafte Inhaftierung drohe. Sein Befund: Auf Ebene des Gesetzesrechts rechtfertigten die Vorschläge der EU-Kommission dieses Fazit nicht. Er verwies auf Grenzverfahren, die etwa in Deutschland an internationalen Flughäfen durchgeführt werden.

Zeynep Yanaşmayan (Deutsches Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung, Berlin) betonte, Solidaritätsnetzwerke und Seenotrettung sollten dringend entkriminalisiert werden. Es bestehe kein „Anziehungseffekt“ durch Seenotrettung im Mittelmeer. Die Lage an den Außengrenzen der EU bleibe prekär und erfülle häufig nicht die rechtlichen Mindeststandards für die Aufnahmebedingungen und das Asylrecht. Die geplante Screening-Verordnung könne die Belastung an den Außengrenzen erhöhen und den Zugang zum Asylverfahren erschweren. Der Umgang mit Geflüchteten aus der Ukraine habe gezeigt, welche Aufnahmemöglichkeiten bestünden, wenn der politische Wille vorhanden sei.

Quelle: Deutscher Bundestag, HiB Nr. 220 vom 27. März 2023

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