Ein Prozess vor dem Schöffengericht am Amtsgericht Würzburg musste zum zweiten Mal verschoben werden. Der Grund: Fehlende Papierakten der Justiz aus Bamberg.

Vorgeworfen wird dem 32-Jährigen unerlaubtes Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge. Über eineinhalb Kilo Amphetamin und Marihuana soll der Angeklagte von einem mittlerweile verurteilten Großdealer aus dem Raum Haßfurt gekauft haben, um damit selbst Handel zu treiben.

Die Taten: mittlerweile fast 2 Jahre her – das Urteil lässt aber weiter auf sich warten. Aufgrund der Vorwürfe saß der junge Mann 2021 fast 5 Monate in Untersuchungshaft – bis der Haftbefehl kurz vor Weihnachten dann unter Auflagen außer Vollzug gesetzt wurde. Seitdem muss er zweimal wöchentlich einer Meldeauflage nachkommen.

„Von Sven* habe ich nur einmal 200 Gramm Marihuana für den Eigenverbrauch erworben“, so der Angeklagte. Die anderen angeklagten Übergaben habe es nicht gegeben. Dreimal sei der rechtskräftig verurteilte Dealer bei ihm gewesen. Einmal um eine Blüte zum Probieren dazulassen, einmal zur Übergabe und ein letztes Mal für die Bezahlung. Das sei es gewesen, so der Angeklagte.

Eine schwangere Zeugin und eine fehlende Papierakte

Licht ins Dunkel bringen sollte eine Zeugin, die im Zusammenhang mit den Taten des Angeklagten von der Justiz in Bamberg bereits rechtskräftig verurteilt worden ist. Somit steht ihr als Zeugen das Auskunftsverweigerungsrecht des § 55 Strafprozessordnung, das sie selbst vor Strafverfolgung schützen soll, nicht mehr zu (Siehe Hintergrund I: Das Auskunftsverweigerungsrecht des § 55 StPO).

Dafür muss das Gericht jedoch wissen, für welche Taten die Zeugin verurteilt worden ist. Nur für diese ist sie vor weiteren Sanktionen geschützt. Und genau das wusste weder das Gericht, die Staatsanwaltschaft noch die Zeugin selbst. „Die Akten aus Bamberg habe ich angefordert aber bisher nicht bekommen“, so die Richterin. Nur aus den Akten und dem Urteil sei ersichtlich, zu welchen Taten die junge Frau Auskunft geben muss. Ohne die Papierakte ist dies nicht möglich, so die Prozessbeteiligten. Als die Zeugin realisierte, dass ihre Vernehmung erneut scheitert, war sie sichtlich erbost: „Ich bin mittlerweile schwanger und fahre nun schon zum zweiten Mal umsonst zum Gericht!“

Ein schneller digitaler Abruf der Gerichtsakte? Bisher nicht möglich. Muss erst bis 2026 bundesweit an allen Gerichten eingeführt sein. Digitalisierung: Fehlanzeige.

Akte im ersten Termin nicht vollständig

Ein erster Verhandlungstermin ist vor einigen Monaten bereits geplatzt, weil ein Polizeibeamter von einer Wohnraumüberwachung berichtete, von denen die Verteidiger des Angeklagten keinerlei Kenntnis hatten. Zudem wurden vom Gericht Nachermittlungen angeordnet, die aber ohne nennenswerte Ergebnisse blieben.

„Wir haben hier in Deutschland das Prinzip der Aktenwahrheit“, so der Verteidiger des Angeklagten, Rechtsanwalt Peter Möckesch aus Würzburg. Wenn eine Ermittlungsmaßnahme ohne Erkenntnisse für die Polizei bleibt, habe das in den Akten zu stehen und kann nicht plötzlich erst im Prozess auftauchen.

Der aufgrund der erneuten Verschiebung ebenfalls sichtlich genervte Angeklagte bekam von der Vorsitzenden Richterin noch mit auf den Weg, dass die zeit ja für ihn spiele. (Siehe Hintergrund II: Berücksichtigung der Belastungen des Angeklagten durch einer langen Verfahrensdauer bei der Strafzumessung)

Haftbefehl wurde aufgehoben

Der seit mittlerweile 19 Monaten bestehende Haftbefehl wurde vom Gericht am Ende der Sitzung noch aufgehoben. „Mein Mandant war durch die Meldeauflage im Rahmen seines Arbeitsverhältnisses sichtlich belastet“, so sein zweiter Verteidiger Stefan Wagner.

Sven*, der Lieferant der Drogen, der sich mittlerweile in Strafhaft befindet, wurde von zwei Polizeibeamten in Fußfesseln aus der JVA vorgeführt und musste unverrichteter Dinge wieder zurückgebracht werden. Auch die Akte zu seinem Verfahren liege nicht vor, so die Richterin.

Ein neuer Termin wird wohl in einigen Monaten gefunden sein. Ob die Akten aus Bamberg bis dahin vorliegen, darf mit Spannung erwartet werden.

*Name von der Redaktion geändert

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Rechtlicher Hintergrund I: Das Auskunftsverweigerungsrecht des § 55 StPO

Das Auskunftsverweigerungsrecht eines Zeugen ist in § 55 der Strafprozessordnung (StPO) normiert. Es dient dem Schutz des Zeugen vor Strafverfolgung. Er kann also solche Antworten verwiegern, bei denen Gefahr bestünde, dass er selbst oder ein Angehöriger wegen einer Straftat oder einer Ordnungswidrigkeit verfolgt werden würde.

Dieses Weigerungsrecht ist jedoch nicht mehr gegeben, wenn der Zeuge wegen der Tat, zu der er befragt wird, bereits rechtskräftig verurteilt ist. Dann ist die Gefahr der Strafverfolgung für ihn zweifellos ausgeschlossen. Gemäß Art. 103 Absatz 3 des Grundgesetzes darf jemand nämlich wegen derselben Tat nicht mehrmals bestraft werden (ne bis in idem).

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Rechtlicher Hintergrund II: Berücksichtigung der Belastungen des Angeklagten durch einer langen Verfahrensdauer bei der Strafzumessung

Kommt es in einem Strafverfahren zu einem großen Abstand zwischen Tat und Urteil, kann dies bei der Bestimmung der Rechtsfolgen unter drei verschiedenen Aspekten von Belang sein:

Zum einen kann der betreffende Zeitraum bereits für sich genommen ins Gewicht fallen, denn allein schon durch einen besonders langen Zeitraum, der zwischen der Tat und dem Urteil liegt, nimmt das Strafbedürfnis allgemein ab (vgl. BGHSt 52, 124; Senat, Beschluss vom 29. Januar 2020 – [4] 161 Ss 9/20 [9/20] – m.w.N.).

Unabhängig hiervon kann zum zweiten einer überdurchschnittlich langen Verfahrensdauer – auch wenn diese sachlich bedingt war (vgl. BGH NStZ 2011, 651; BGH wistra 2009, 347; BGH NStZ-RR 2016, 7; Senat aaO) – eine eigenständige strafmildernde Bedeutung zukommen, bei der insbesondere die mit dem Verfahren selbst verbundenen Belastungen des Angeklagten zu berücksichtigen sind.

Zum dritten kann sich schließlich eine darüber hinausgehende rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung zu Gunsten des Angeklagten auswirken (vgl. BGHSt 52, 124).

Vgl. KG Berlin, Urteil vom 22.07.2020, (4) 161 Ss 66/20 (91/20)

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