Der 8. Senat des Bundessozialgerichts berichtet über seine Sitzung vom 23. Februar 2023 in Angelegenheiten der Sozialhilfe.
1) 10.30 Uhr
B 8 SO 4/22 R
S. S. ./. Stadt Gelsenkirchen
beigeladen: A GmbH
Verfahrensgang:
Sozialgericht Gelsenkirchen, S 2 SO 296/17, 12.03.2020
Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen, L 9 SO 155/20, 13.01.2022
Der Senat hat auf die Revision der Beklagten das Urteil des Landessozialgerichts geändert und die Berufung der Klägerin gegen das klageabweisende Urteil des Sozialgerichts vollumfänglich zurückgewiesen. Die Klägerin erfüllt zwar dem Grunde nach die Voraussetzungen für eine dauerhafte Hilfe zur Weiterführung des Haushalts nach § 70 SGB XII. Selbst wenn hier die Heranziehung einer “besonderen Person“ – verstanden als professionelle Kraft – erforderlich war, bestand ein Bedarf nach den bindenden Feststellungen des Landessozialgerichts ausschließlich bei einfachen hauswirtschaftlichen Verrichtungen (ein wöchentlicher Einkauf und Hilfe bei aufwändigen Aufräum- und Reinigungsarbeiten sowie kleine Hilfestellungen im Haushalt). Die Beklagte durfte die Klägerin daher darauf verweisen, eine ungelernte Haushaltshilfe zu ortsüblichen Konditionen in Anspruch zu nehmen, für die im Ausgangspunkt der Mindestlohn aufzuwenden ist und deren Kosten die Klägerin hier aus eigenem Einkommen hätte aufbringen können. Die Inanspruchnahme eines vertragsgebundenen Pflegedienstes war dagegen nicht angemessen. Ein Anspruch folgt nicht daraus, dass keine als Haushaltshilfe zugelassenen Dritten zur Verfügung standen; § 70 Absatz 3 Satz 3 SGB XII gibt entgegen der Auffassung des Landessozialgerichts keine Erbringung als Sachleistung vor, bei dem der Leistungsempfänger auf zugelassene Leistungserbringer zurückgreift, die mit dem Träger der Sozialhilfe entsprechende Verträge geschlossen haben.
2) 11.30 Uhr
B 8 SO 2/22 R
R. D. ./. Landrat des Kreises Segeberg
Verfahrensgang:
Sozialgericht Hamburg, S 52 SO 455/15, 7.10.2019
Landessozialgericht Hamburg, L 4 SO 34/20, 23.02.2021
Der Senat hat die Entscheidung des Landessozialgerichts aufgehoben und die Sache zurückverwiesen. Nach dem Abschluss eines Teilvergleichs im Übrigen ist lediglich noch über weitere Geldleistungen für Oktober 2015 in Höhe des Mehrbedarfs bei Zuerkennung des Merkzeichens G (54,40 Euro) zu entscheiden. Bei sachgerechter Auslegung des klägerischen Begehrens ist das Klageziel auf die Gewährung dieses zusätzlichen Betrags als weiterer notwendiger Lebensunterhalt in Einrichtungen gerichtet, der als Annexleistung zur Hilfe bei stationärer Pflege als Hilfe zum Lebensunterhalt zu zahlen ist. Ein Anspruch scheidet nicht von vornherein aus, weil der Bedarf zu dem in der Einrichtung erbrachten inkludierten Lebensunterhalt gehört. Zwar fallen auch behinderungsbedingte Bedarfe bei Zuerkennung des Merkzeichens G (etwa bei der Mobilität, bei notwendigen Hilfeleistungen wegen verminderter Beweglichkeit, bei der Instandhaltung von Kleidung und Schuhen und deren Reinigung) im Grundsatz in den Deckungsbereich der Einrichtung. Deckt das Angebot der Einrichtung diese individuellen Bedarfe tatsächlich vollumfänglich ab, scheidet eine pauschale Erhöhung des weiteren notwendigen Lebensunterhalts aus. Soweit dies nicht der Fall ist, sind die Bedarfe aber als dem (sonstigen) weiteren notwendigen Lebensunterhalt zuzuordnende Bedarfe gesondert zu berücksichtigen. Sie werden nicht vom angemessenen Barbetrag zur persönlichen Verfügung erfasst, weil dieser (lediglich) der Erfüllung persönlicher Bedürfnisse unter Berücksichtigung des Wunsch- und Wahlrechts dient, die außerhalb von Einrichtungen vom Regelsatz abgegolten sind. Soweit der Leistungsberechtigte die Bedarfe wegen eines fehlenden Angebots der Einrichtung selbst decken muss, orientiert sich die konkrete Höhe an der Vorgabe in § 30 Absatz 1 SGB XII; Leistungen, die von der Einrichtung erbracht werden, sind allerdings zu berücksichtigen. Nachdem die Klägerin dargelegt hat, dass insbesondere ihre Mobilitätsbedarfe von der Einrichtung nur unzureichend gedeckt werden, wird das Landessozialgerichts von Amts wegen zu überprüfen haben, ob und inwieweit tatsächlich eine Deckungslücke verbleibt und die abschließenden Feststellungen zur Höhe des weiteren notwendigen Lebensunterhalts zu treffen haben.
3) 12.30 Uhr
B 8 SO 9/21 R
J. R. ./. Bezirk Unterfranken
Verfahrensgang:
Sozialgericht München, S 46 SO 503/20, 4.12.2020
Bayerisches Landessozialgericht, L 8 SO 6/21, 18.06.2021
Der Senat hat auf die Revision des Klägers die angegriffenen Überleitungsanzeigen aufgehoben. Die Überleitungen scheitern allerdings nicht daran, dass ein überleitungsfähiger Anspruch von vornherein objektiv ausgeschlossen wäre. Ausreichend ist, dass die Überleitung für einen Zeitraum erfolgt, für den Leistungen der Sozialhilfe tatsächlich gewährt worden sind und nicht offensichtlich ist, dass das Ziel der Wiederherstellung des Nachrangs der Sozialhilfe durch die Überleitung der Rückforderung einer in Form des Verzichts auf das Wohnrecht erfolgten Schenkung nicht verwirklicht werden kann. Dahinstehen kann vorliegend, ob und in welchen Fällen eine Überprüfung der Rechtmäßigkeit der erbrachten Sozialhilfeleistungen zu erfolgen hat. Die Überleitungsanzeigen sind jedenfalls deshalb rechtswidrig, weil der Beklagte bei ihrem Erlass das ihm zustehende Ermessen nicht pflichtgemäß ausgeübt hat. Zwar hat er auf das eingeräumte Ermessen hingewiesen und als zulässigen Ermessensgesichtspunkt die angestrebte Wiederherstellung des Nachrangs der Sozialhilfe genannt. Andere Gesichtspunkte seien nicht erkennbar. Ein Ermessensfehlgebrauch liegt aber auch dann als Abwägungsdefizit vor, wenn die Behörde nicht alle Ermessensgesichtspunkte, die nach der Lage des Falls zu berücksichtigen sind, in die Entscheidungsfindung einbezogen hat, weil sie ihrer Ermessensbetätigung einen unvollständigen Sachverhalt zugrunde gelegt hat. Bei der Überleitung eines Schenkungsrückforderungsanspruchs im engen familiären Umfeld, mit dem eine häufig aus ideellen Motiven getroffene unentgeltliche Zuwendung rückgängig gemacht wird und die typischerweise in die familiären Verhältnisse eingreift, gehört es nicht zuletzt im Hinblick auf das Gebot familiengerechter Leistungen (§ 16 SGB XII) aber zur umfassenden Sachverhaltsermittlung, die Schenker (hier die Eltern des Klägers) anzuhören. Vorliegend ist dies nach den bindenden Feststellungen des Landessozialgerichts nicht geschehen. Bereits deswegen ist die Ermessensentscheidung fehlerhaft.
4) 13.30 Uhr
B 8 SO 8/21 R
Landrat des Kreises Rendsburg-Eckernförde ./. Freie und Hansestadt Hamburg
beigeladen: Ministerium für Soziales, Gesundheit, Familie, Jugend und Senioren des Landes Schleswig-Holstein
Verfahrensgang:
Sozialgericht Schleswig, S 12 SO 21/15, 14.12.2017
Schleswig-Holsteinisches Landessozialgericht, L 9 SO 30/18, 11.08.2021
Der Senat hat die Revision der Beklagten zurückgewiesen. Zutreffend hat das Landessozialgericht die Beklagte zur Erstattung der bis zum 31. August 2021 angefallenen Kosten verurteilt. Die Beklagte ist der örtlich zuständige Träger nach § 98 Absatz 2 Satz 1 und Satz 2 SGB XII; der Kläger hat als Träger am Ort des tatsächlichen Aufenthalts rechtmäßig vorläufig Leistungen der stationären Hilfe erbracht und deshalb einen Erstattungsanspruch aus § 106 Absatz 1 Satz 1 SGB XII gegen sie. Entscheidend ist, dass L bis zum 28. März 2003 und damit weniger als zwei Monate vor der erstmaligen Aufnahme in eine Einrichtung ihren Wohnsitz und gewöhnlichen Aufenthalt im Stadtgebiet der Beklagten hatte. Ob L diesen gewöhnlichen Aufenthalt aufgegeben und einen gewöhnlichen Aufenthalt im Ausland begründet hat, kann dahinstehen; denn im Rahmen des § 98 Absatz 2 SGB XII wäre ein gewöhnlicher Aufenthalt außerhalb des Geltungsbereichs des SGB einem nicht vorhandenen oder nicht zu ermittelnden gewöhnlichen Aufenthalt gleichzustellen. Zuständig für die stationäre Leistung ist danach derjenige Träger, in dessen Bereich der Hilfeempfänger seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Zeitpunkt der Aufnahme in die Einrichtung hat (Alternative 1) oder – sofern es einen solchen zu diesem Zeitpunkt nicht gab – in den zwei Monaten vor der Aufnahme zuletzt hatte (Alternative 2). Ein solcher Fall liegt vor, wenn – wie vorliegend – in der Zwischenzeit vor der Aufnahme in die Einrichtung ein anderer gewöhnlicher Aufenthalt im Inland nicht begründet worden ist. Der Anspruch aus § 106 Absatz 1 Satz 2 SGB XII, der eine Erstattung der Kosten durch den überörtlichen Träger vorsieht, besteht demgegenüber nur, wenn sich nicht feststellen lässt, ob und wo überhaupt (in den letzten zwei Monaten vor der Aufnahme) ein gewöhnlicher Aufenthalt im Inland begründet worden ist oder vorhanden war und der Träger am Ort des tatsächlichen Aufenthalts deshalb dauerhaft zur Leistung verpflichtet bleibt. Mit der Klärung der endgültigen Zuständigkeit der Beklagten war lediglich der Feststellungstenor des Landessozialgerichts klarstellend zu fassen.