Mit heute veröffentlichtem Beschluss hat der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts eine Verfassungsbeschwerde als unzulässig verworfen, die sich gegen die Zustimmungsgesetze zum ESM-Änderungsübereinkommen und zum IGA-Änderungsübereinkommen richtete.

Im Jahr 2021 einigten sich die Mitgliedstaaten des Euro-Währungsgebiets auf eine Reform des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) sowie des Übereinkommens über die Übertragung von Beiträgen auf den Einheitlichen Abwicklungsfonds und über die gemeinsame Nutzung dieser Beiträge (Intergovernmental Agreement – IGA). Mit den Änderungen sollen insbesondere die Wirksamkeit der vorsorglichen Finanzhilfeinstrumente gestärkt sowie eine Letztsicherungsfazilität für den einheitlichen (Banken-)Abwicklungsfonds eingeführt werden.

Die Verfassungsbeschwerde gegen die Zustimmungsgesetze zu beiden Änderungsübereinkommen ist unzulässig, weil die Beschwerdeführer die Möglichkeit einer Verletzung ihres Rechts auf demokratische Selbstbestimmung gemäß Art. 38 Abs. 1 Satz 1 Grundgesetz (GG) nicht hinreichend substantiiert dargelegt haben. Sie haben nicht die Möglichkeit aufgezeigt, dass mit den Änderungsübereinkommen Hoheitsrechte auf den ESM oder die Europäische Union übertragen werden oder dass eine (faktische) Änderung der Rahmenbedingungen des Integrationsprogramms der Europäischen Union in Rede steht, die sie in ihrem Recht aus Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG verletzen könnte.

Sachverhalt:

Der ESM wurde 2012 zwischen den Mitgliedstaaten des Euro-Währungsgebiets errichtet. Seinem Zweck entsprechend sollen Finanzmittel mobilisiert und ESM-Mitgliedern, die schwerwiegende Finanzierungsprobleme haben oder denen solche drohen, unter strikten Auflagen Stabilitätshilfen bereitgestellt werden. Mit dem Übereinkommen vom 27. Januar 2021 zur Änderung des ESM-Vertrags (ESM-Änderungsübereinkommen – ESM-ÄndÜ) einigten sich die ESM-Mitgliedstaaten auf eine Reform, mit der die Wirksamkeit der vorsorglichen Finanzhilfeinstrumente und die Kompetenzen des ESM durch die Neuordnung der Zusammenarbeit mit der Europäischen Kommission gestärkt sowie eine Letztsicherungsfazilität für den einheitlichen (Banken-)Abwicklungsfonds eingeführt werden sollen. Das schon bisher im ESM-Vertrag enthaltene Dringlichkeitsverfahren soll für das Instrument der Letztsicherung neu geregelt werden.

Das Übereinkommen vom 21. Mai 2014 über die Übertragung von Beiträgen auf den Einheitlichen Abwicklungsfonds und über die gemeinsame Nutzung dieser Beiträge (Intergovernmental Agreement – IGA) ist Teil der Regelungen zur Europäischen Bankenunion (vgl. BVerfGE 151, 202 <244 Rn. 28> – Europäische Bankenunion). Diese verfolgen das Ziel, die Finanzstabilität in der Eurozone zu wahren. Im Übereinkommen vom 27. Januar 2021 zur Änderung des IGA-Übereinkommens (IGA-Änderungsübereinkommen – IGA-ÄndÜ) verständigten sich die Vertragsparteien auf Änderungen der Regeln für die Vergemeinschaftung von nachträglich erhobenen Beiträgen. Insbesondere soll eine Übertragung nachträglich erhobener Beiträge aus sämtlichen Vertragsstaaten (Vergemeinschaftung) erst nachrangig und der Höhe nach begrenzt erfolgen.

Im Mai 2021 brachte die Bundesregierung den Entwurf eines Zustimmungsgesetzes zum ESM-Änderungsübereinkommen sowie den Entwurf eines Zustimmungsgesetzes zum IGA-Änderungsübereinkommen in den Bundestag ein. Der Bundestag beschloss am 11. Juni 2021 beide Zustimmungsgesetze in unveränderter Fassung. Der Bundesrat stimmte den Zustimmungsgesetzen am 25. Juni 2021 zu. Der Bundespräsident hat die Ausfertigung des Zustimmungsgesetzes zum ESM-Änderungsübereinkommen auf Bitte des Bundesverfassungsgerichts hin ausgesetzt.

Mit ihrer Verfassungsbeschwerde begehren die Beschwerdeführer eine formelle Übertragungskontrolleund rügen die Verletzung ihrer Rechte aus Art. 38 Abs. 1 Satz 1, Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2 in Verbindung mit Art. 79 Abs. 3 GG durch das Zustimmungsgesetz zum ESM-Änderungsübereinkommen und das Zustimmungsgesetz zum IGA-Änderungsübereinkommen, die vom Deutschen Bundestag und vom Bundesrat nur mit einfacher Mehrheit gebilligt worden sind. Nach Ansicht der Beschwerdeführer hätte es jedoch einer Zwei-Drittel-Mehrheit bedurft, weil durch das mit dem ESM-Änderungsübereinkommen eingeführte Dringlichkeitsverfahren im Rahmen der Letztsicherung Hoheitsrechte übertragen würden und die faktische Vertragsänderung die rechtlichen Konturen bestehender Kompetenzen der Europäischen Union in strukturell bedeutsamer Weise modifiziere.

Wesentliche Erwägungen des Senats:

Die Verfassungsbeschwerde ist unzulässig, weil die Beschwerdeführer die Möglichkeit einer Verletzung ihres Rechts auf demokratische Selbstbestimmung gemäß Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG nicht hinreichend substantiiert dargelegt haben.

I. Die Begründung einer Verfassungsbeschwerde muss nach § 92 BVerfGG darlegen, mit welchen verfassungsrechtlichen Anforderungen die angegriffene Maßnahme kollidiert. Dazu ist aufzuzeigen, inwieweit eine Maßnahme die bezeichneten Grundrechte oder grundrechtsgleichen Rechte verletzen soll. Liegt zu den mit der Verfassungsbeschwerde aufgeworfenen Fragen bereits Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts vor, so ist der behauptete Grundrechtsverstoß in Auseinandersetzung mit den darin entwickelten Maßstäben zu begründen.

II. Der Vortrag der Beschwerdeführer zur Möglichkeit einer Verletzung ihres Rechts auf demokratische Selbstbestimmung aus Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG durch die angegriffenen Zustimmungsgesetze genügt diesen Begründungsanforderungen nicht.

1. Zustimmungsgesetze zu völkerrechtlichen Verträgen können – in bestimmten Fällen auch bereits vor ihrem Inkrafttreten – ­mit der Verfassungsbeschwerde angegriffen werden, wenn der Vertrag Regelungen enthält, die unmittelbar in die Rechtssphäre des Einzelnen eingreifen. Das gilt auch für völkerrechtliche Verträge zur Weiterentwicklung der Europäischen Union und zur Errichtung und Änderung von zwischenstaatlichen Einrichtungen, die in einem Ergänzungs- oder sonstigen besonderen Näheverhältnis zur Europäischen Union stehen.

Die Beschwerdebefugnis für eine Verfassungsbeschwerde gegen ein Zustimmungsgesetz kann sich auch aus einer möglichen Verletzung des Rechts auf demokratische Selbstbestimmung aus Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG ergeben. Die Überprüfung eines Zustimmungsgesetzes zu einem völkerrechtlichen Vertrag am Maßstab von Art. 23 Abs. 1 Satz 2 und Satz 3 GG setzt allerdings voraus, dass durch das Zustimmungsgesetz tatsächlich Hoheitsrechte auf die Europäische Union oder eine zwischenstaatliche Einrichtung, die zu dieser in einem Ergänzungs- oder sonstigen besonderen Näheverhältnis steht, übertragen werden. Eine solche Übertragung von Hoheitsrechten liegt jedenfalls bei der Ermächtigung der Europäischen Union oder der zwischenstaatlichen Einrichtung zu Maßnahmen mit Durchgriffswirkung für die Rechtsunterworfenen in Deutschland vor. Eine lediglich faktische Änderung des Integrationsprogramms der Europäischen Union beziehungsweise seiner rechtlichen Einbettung durch den Abschluss völkerrechtlicher Verträge jenseits von Primärrechtsänderungen stellt dagegen in aller Regel keine Übertragung von Hoheitsrechten auf die Europäische Union dar.

2. Vor diesem Hintergrund haben die Beschwerdeführer eine Verletzung von Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG nicht hinreichend substantiiert dargelegt. Sie haben nicht die Möglichkeit aufgezeigt, dass mit dem ESM-Änderungsübereinkommen Hoheitsrechte auf den ESM oder die Europäische Union übertragen werden oder dass eine (faktische) Änderung der Rahmenbedingungen des Integrationsprogramms der Europäischen Union in Rede steht, die sie in ihrem Recht aus Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG verletzen könnte. Dies gilt auch für das IGA-Änderungsübereinkommen.

a) Dass durch das ESM-Änderungsübereinkommen Hoheitsrechte auf den ESM übertragen werden, haben die Beschwerdeführer nicht substantiiert begründet. Mit Feststellungen des Senats, die eine Übertragung von Hoheitsrechten durch den ESM-Vertrag ausdrücklich verneint haben (vgl. etwa BVerfGE 153, 74 <145 Rn. 123> – Einheitliches Patentgericht), haben sie sich nicht auseinandergesetzt. Ebenso wenig haben sie aufgezeigt, dass eine faktische Änderung der Rahmenbedingungen des Integrationsprogramms der Europäischen Union sie in ihrem Recht aus Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG verletzen könnte.

aa) Im Hinblick auf die Neuregelung des Dringlichkeitsabstimmungsverfahrens für das Instrument der Letztsicherung (Art. 18a Abs. 6 ESM-ÄndÜ) behaupten die Beschwerdeführer lediglich, dass durch die Ausgestaltung dieses Verfahrens die politische Herrschaft über die Aktivierung der Letztsicherung auf die Europäische Kommission und die Europäische Zentralbank verlagert werde. Dabei stellt die Art und Weise der Beschlussfassung in den Gremien des ESM über die Gewährung von Finanzhilfen, für sich genommen, keine Ausübung von Hoheitsrechten dar. Vielmehr geht es lediglich um die Regelung von Zahlungsvorgängen zwischen dem ESM, dem Ausschuss für die einheitliche Abwicklung und einzelnen Mitgliedstaaten, die die Rechtssphäre der Bürgerinnen und Bürger nicht unmittelbar berühren. Da der ESM mit der Entscheidung über die Gewährung von Finanzhilfen sowie mit den damit verbundenen Aufgaben keine Hoheitsrechte wahrnimmt, stellt auch eine diesbezügliche, auf die Aufgaben des ESM bezogene Verfahrensregelung wie Art. 18a Abs. 6 ESM-ÄndÜ keine Ermächtigung zur Ausübung von Hoheitsrechten dar.

Hinsichtlich anderer Regelungen des ESM-Änderungsübereinkommens – namentlich der Einräumung einer Letztsicherungsfazilität für den einheitlichen Abwicklungsfonds in Art. 18a ESM-ÄndÜ – ist eine Übertragung von Hoheitsrechten auf den ESM ebenfalls nicht dargelegt. Schon nach geltendem Recht kann der ESM die Vertragsstaaten unterstützen, wenn diese ihrer Verpflichtung nicht nachkommen können, dem Ausschuss für die einheitliche Abwicklung Kreditlinien einzuräumen, um dessen ausreichende Finanzierung sicherzustellen.

Soweit sich die Beschwerdeführer dagegen wenden, dass die Europäische Kommission und die Europäische Zentralbank durch das ESM-Änderungsübereinkommen in größerem Umfang als bisher im Wege der Organleihe für die Erfüllung der Aufgaben des ESM herangezogen werden sollen, haben sie eine Übertragung von Hoheitsrechten – sei es auf den ESM, sei es auf die Europäische Union – gleichfalls nicht substantiiert dargetan. Die neuen Aufgaben der Europäischen Kommission beziehen sich darauf, die Übereinstimmung der Maßnahmen des ESM mit dem Unionsrecht, insbesondere mit dem Rahmen für die Koordinierung der Wirtschaftspolitik sicherzustellen. Das deckt sich mit dem vom Unionsrecht vorgegebenen Aufgabenbereich der Europäischen Kommission. Dass hierin eine (weitere) Übertragung von Hoheitsrechten liegen könnte, ist von den Beschwerdeführern nicht aufgezeigt worden.

Durch die Erweiterung der Organleihe werden der Europäischen Kommission auch keine Entscheidungsbefugnisse übertragen. Die Organleihe beschränkt sich, wie auch die der Europäischen Zentralbank, auf vorbereitende und unterstützende Tätigkeiten. Da der ESM nicht zur Ausübung von Hoheitsrechten ermächtigt ist, ist es grundsätzlich ohne Belang, ob er seine Aufgaben durch eigene Organe erfüllt oder sich dazu der Organe anderer zwischenstaatlicher Einrichtungen und internationaler Organisationen bedient.

bb) Die Beschwerdeführer haben auch nicht aufgezeigt, dass das ESM-Änderungsübereinkommen eine faktische Änderung des Integrationsprogramms der Europäischen Union enthielte. Es sieht lediglich nachrangige Modifikationen des bestehenden Integrationsprogramms des ESM vor. Die Frage nach der Möglichkeit einer Übertragung von Hoheitsrechten auf die Europäische Union durch eine faktische Änderung ihres Integrationsprogramms stellt sich daher von vornherein nicht.

Die Inanspruchnahme von Europäischer Kommission und Europäischer Zentralbank für die Zwecke des ESM stellt keine neue, sondern eine vom Integrationsprogramm der Europäischen Union schon umfasste Aufgabe dar.

Die Beschwerdeführer haben auch nicht dargetan, dass durch die Neuregelung der vorsorglich bedingten Kreditlinie (PCCL) im Rahmen des ESM-Änderungsübereinkommens die primärrechtliche Grundlage des ESM der Sache nach ersetzt oder geändert wird. Es ist nicht erkennbar, dass die Ausgestaltung der PCCL insbesondere im Hinblick auf die Konditionalität, nicht mehr der Vorgabe des Art. 136 Abs. 3 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) entsprechen sollte, das heißt der Anforderung, dass die Gewährung von Finanzhilfen im Rahmen des ESM unter anderem zur Verfolgung einer soliden Haushaltspolitik durch die Mitgliedstaaten strengen Auflagen unterliegt. Denn die neue Regelung gibt deutlicher als bisher vor, dass eine PCCL nur gewährt werden darf, sofern die für die jeweilige Art von Finanzhilfe geltenden Zugangskriterien erfüllt sind, die zudem teils strenger gefasst sind.

Die Neuregelung der PCCL und die Einführung der Letztsicherungsfazilität bewirken auch keine faktische Änderung von Art. 125 AEUV (Bail out-Verbot). Es ist nicht ersichtlich, warum der betreffende Mitgliedstaat durch die Neuregelung der PCCL weniger als bisher zu einer soliden Haushaltspolitik angehalten sein sollte. Die Zurverfügungstellung der Letztsicherungsfazilität stellt keine an einen Vertragsstaat gerichtete Stabilitätshilfe dar, sondern eine Finanzhilfe an eine Agentur der Europäischen Union zur Unterstützung der Abwicklungsinstrumente und -befugnisse des Ausschusses für die einheitliche Abwicklung, die die nationalen Haushalte lediglich mittelbar entlastet. Das Prinzip der Eigenständigkeit der nationalen Haushalte ist davon nicht betroffen.

Desgleichen haben die Beschwerdeführer eine faktische Änderung von Art. 126 AEUV nicht dargelegt. Da das Defizitverfahren nach Art. 126 AEUV auch ein Teil der Koordinierung der Wirtschaftspolitik ist, dürfen die wirtschaftspolitischen Auflagen oder die Verpflichtung zur Einhaltung der vorab festgelegten Kriterien im Rahmen der PCCL auch den Vorgaben aus diesem Defizitverfahren nicht widersprechen.

Eine faktische Änderung von Art. 114 AEUV durch die Regelungen des ESM-Änderungsübereinkommens ist ebenfalls nicht aufgezeigt worden. Die Bereitstellung einer Letztsicherungsfazilität führt nicht zu einer Änderung des Binnenmarktkonzepts. Dass auch Staaten, die nicht Mitglieder der Eurozone sind, an der Tätigkeit des einheitlichen Abwicklungsmechanismus mitwirken, ändert daran nichts. Es existiert bereits eine Fülle von Bereichen, in denen Drittstaaten an Teilen des Integrationsprogramms der Europäischen Union mitwirken. Vor diesem Hintergrund erschließt sich nicht, dass beziehungsweise warum sich durch die Einbeziehung von Staaten, die nicht zum Euro-Währungsgebiet und damit zum ESM gehören, eine faktische Änderung von Art. 114 AEUV ergeben sollte.

Die Letztsicherungsfazilität berührt im Übrigen nicht das Verbot der monetären Haushaltsfinanzierung. Der ESM unterfällt auch nach dem ESM-Änderungsübereinkommen den in Art. 123 Abs. 1 AEUV genannten Institutionen, an die die Europäische Zentralbank keine Kredite vergeben darf.

b) Die Beschwerdeführer haben schließlich auch nicht substantiiert dargelegt, dass durch das IGA-Änderungsübereinkommen Hoheitsrechte übertragen werden oder dass dieses zu einer faktischen Änderung des Primärrechts der Europäischen Union führen könnte.

Quelle: Bundesverfassungsgericht, Pressemitteilung vom 9. Dezember 2022

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