Mit heute verkündetem Urteil hat der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts zwei Verfassungsbeschwerden zurückgewiesen, die sich gegen das Eigenmittelbeschluss-Ratifizierungsgesetz (ERatG) richteten.

Im Juli 2020 vereinbarten die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union zur Bewältigung der wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen der COVID-19-Pandemie das temporäre Aufbauinstrument „Next Generation EU“ (NGEU). Der auf dieser Grundlage gefasste Eigenmittelbeschluss des Rates der Europäischen Union vom 14. Dezember 2020 (Eigenmittelbeschluss 2020) ermächtigt die Europäische Kommission, zur Finanzierung von NGEU im Namen der Europäischen Union bis 2026 an den Kapitalmärkten Mittel bis zu einem Betrag von 750 Milliarden Euro zu Preisen von 2018 aufzunehmen. Die Bundesrepublik Deutschland hat dem Eigenmittelbeschluss 2020 mit dem Eigenmittelbeschluss-Ratifizierungsgesetz zugestimmt.

Dieses Gesetz verletzt die Beschwerdeführer nicht in ihrem Recht auf demokratische Selbstbestimmung aus Art. 38 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2 und Art. 79 Abs. 3 des Grundgesetzes (GG), weil der Eigenmittelbeschluss 2020 jedenfalls keine offensichtliche Überschreitung des geltenden Integrationsprogramms der Europäischen Union darstellt und weil er auch die haushaltspolitische Gesamtverantwortung des Deutschen Bundestages nicht beeinträchtigt. Einer Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union bedurfte es nicht.

Die Entscheidung ist mit 6:1 Stimmen ergangen. Der Richter Müller hat ein Sondervotum zu der Entscheidung abgegeben.

Sachverhalt:

Die Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten der Europäischen Union vereinbarten im Juli 2020 den Mehrjährigen Finanzrahmen (MFR) 2021 bis 2027 und das temporäre Aufbauinstrument NGEU. Der Rat der Europäischen Union nahm den Eigenmittelbeschluss 2020 am 14. Dezember 2020 an. Dieser ermächtigt die Europäische Kommission zur Aufnahme von Krediten bis zu 750 Milliarden Euro zu Preisen von 2018 im Namen der Europäischen Union. Von diesen Mitteln können bis zu 360 Milliarden Euro für die Gewährung von Darlehen und bis zu 390 Milliarden Euro für Ausgaben verwendet werden. Die Union darf die an den Kapitalmärkten aufgenommenen Mittel nicht zur Finanzierung operativer Ausgaben verwenden.

Das temporäre Aufbauinstrument NGEU findet seine Grundlage in der Verordnung (EU) 2020/2094 des Rates vom 14. Dezember 2020 zur Schaffung eines Aufbauinstruments der Europäischen Union („European Union Recovery Instrument“ – EURI) zur Unterstützung der Erholung nach der COVID-19-Krise (EURI-VO). Kernstück von NGEU ist die sogenannte Aufbau- und Resilienzfazilität („Recovery and Resilience Facility“ – RRF), die mit der Verordnung (EU) 2021/241 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Februar 2021 geschaffen wurde (RRF-VO).

Am 19. Februar 2021 legte die Bundesregierung den Entwurf des Eigenmittelbeschluss-Ratifizierungsgesetzes vor. Der Deutsche Bundestag nahm den Gesetzentwurf am 25. März 2021 an. Der Bundesrat stimmte ihm am 26. März 2021 zu.

Auf den Antrag mehrerer Beschwerdeführer auf Erlass einer einstweiligen Anordnung hin ordnete der Senat mit Beschluss vom 26. März 2021 zunächst an, dass das Eigenmittelbeschluss-Ratifizierungsgesetz bis zur Entscheidung über den Eilantrag durch den Bundespräsidenten nicht ausgefertigt werden darf. Mit weiterem Beschluss vom 15. April 2021 lehnte der Senat den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ab.

Das Eigenmittelbeschluss-Ratifizierungsgesetz wurde durch den Bundespräsidenten am 23. April 2021 ausgefertigt und am 28. April 2021 im Bundesgesetzblatt verkündet.

Der Eigenmittelbeschluss 2020 trat am 1. Juni 2021 rückwirkend zum 1. Januar 2021 in Kraft. Eine erste Auszahlung von NGEU-Mitteln erfolgte am 28. Juni 2021.

Die Beschwerdeführer machen im Wesentlichen geltend, das Eigenmittelbeschluss-Ratifizierungsgesetz verletze sie in ihren Rechten aus Art. 38 Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2 sowie Art. 79 Abs. 3 GG.

Wesentliche Erwägungen des Senats:

Die zulässigen Verfassungsbeschwerden sind unbegründet. Das Eigenmittelbeschluss-Ratifizierungsgesetz verletzt die Beschwerdeführer nicht in ihrem Recht auf demokratische Selbstbestimmung.

I. 1. Das Recht auf demokratische Selbstbestimmung folgt aus Art. 38 Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2 sowie Art. 79 Abs. 3 GG und vermittelt Bürgerinnen und Bürgern nicht nur Schutz vor einer substantiellen Erosion der Gestaltungsmacht des Deutschen Bundestages, sondern auch ein Recht darauf, dass Organe, Einrichtungen und sonstige Stellen der Europäischen Union nur die Zuständigkeiten ausüben, die ihnen nach Maßgabe des Art. 23 Abs. 1 GG übertragen worden sind. Dieses Recht wird verletzt, wenn solche Organe, Einrichtungen und sonstige Stellen Maßnahmen treffen, die vom Integrationsprogramm nicht gedeckt sind, oder wenn beim Vollzug des Integrationsprogramms die Grenzen des Art. 79 Abs. 3 GG nicht beachtet werden. Für Bundestag und Bundesregierung ergibt sich aus Art. 23 Abs. 1 bis Abs. 3 GG insoweit eine Integrationsverantwortung, die sie verpflichtet, die Einhaltung der verfassungsrechtlichen Grenzen der Integration sicherzustellen.

2. Nach Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG muss jede in Deutschland ausgeübte öffentliche Gewalt auf Bürgerinnen und Bürger zurückführbar sein. Damit gewährleistet das Grundgesetz deren Anspruch auf freie und gleiche Teilhabe an der Legitimation und Beeinflussung der sie betreffenden Hoheitsgewalt.

a) Art. 38 Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2 sowie Art. 79 Abs. 3 GG schützt insoweit unter anderem vor einer eigenmächtigen Inanspruchnahme hoheitlicher Befugnisse durch Organe, Einrichtungen und sonstige Stellen der Europäischen Union. Nehmen diese Aufgaben und Befugnisse in Anspruch, die das im Zustimmungsgesetz niedergelegte Integrationsprogramm nicht vorsieht, so verletzen sie damit den durch Art. 1 Abs. 1 GG geschützten Kern der Volkssouveränität.

b) Dem entsprechen die Bestimmungen des Unionsrechts. Die Europäische Union wird durch das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung (Art. 5 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 Satz 1 des Vertrags über die Europäische Union – EUV) und die Grundrechte der Charta gebunden und achtet die Verfassungsidentität der Mitgliedstaaten, auf denen sie beruht. Für eine Erweiterung ihrer Befugnisse ist sie auf Vertragsänderungen angewiesen, die von den Mitgliedstaaten vorgenommen und verantwortet werden müssen.

c) Die Einhaltung des im Zustimmungsgesetz zu den europäischen Verträgen niedergelegten Integrationsprogramms prüft das Bundesverfassungsgericht im Rahmen der Ultra-vires-Kontrolle und trägt so zur Sicherstellung eines hinreichenden demokratischen Legitimationsniveaus bei dessen Vollzug und zur Gewährleistung des Grundsatzes der Rechtsstaatlichkeit bei. Die Annahme eines Ultra-vires-Aktes setzt eine hinreichend qualifizierte Kompetenzüberschreitung voraus. Diese muss offensichtlich und für die Kompetenzverteilung zwischen der Europäischen Union und den Mitgliedstaaten von struktureller Bedeutung sein. Eine Maßnahme von Organen, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Europäischen Union liegt offensichtlich außerhalb der übertragenen Kompetenzen, wenn sich deren Kompetenz unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt begründen lässt. Strukturell bedeutsam ist eineVerschiebung zulasten mitgliedstaatlicher Kompetenzen dann, wenn die Kompetenzüberschreitung im Hinblick auf das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung und die rechtsstaatliche Gesetzesbindung erheblich ins Gewicht fällt, das heißt ein Tätigwerden des Integrationsgesetzgebers erfordert.

3. Das Recht auf demokratische Selbstbestimmung wird ferner verletzt, wenn Maßnahmen von Organen, Einrichtungen oder sonstigen Stellen der Europäischen Union die Grenze der durch Art. 79 Abs. 3 GG (in Verbindung mit Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG) für unantastbar erklärten Grundsätze des Art. 20 GG berühren, namentlich wenn durch sie die Gestaltungsmacht des Bundestages substantiell eingeschränkt wird.

a) Das Budgetrecht des Deutschen Bundestages und dessen haushaltspolitische Gesamtverantwortung sind als unverfügbarer Teil des grundgesetzlichen Demokratieprinzips durch Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2, Art. 79 Abs. 3 GG geschützt. Es gehört zum änderungsfesten Kern des Grundgesetzes, dass der Bundestag dem Volk gegenüber verantwortlich über alle wesentlichen Einnahmen und Ausgaben entscheidet und über die Summe der Belastungen der Bürgerinnen und Bürger sowie über wesentliche Ausgaben des Staates befindet. Vor diesem Hintergrund liegt eine Verletzung des Demokratieprinzips vor, wenn die Festlegung von Abgaben in Art und Höhe in wesentlichem Umfang supranationalisiert und damit der Dispositionsbefugnis des Bundestages entzogen würde. Ob und inwieweit sich unmittelbar aus dem Demokratieprinzip eine justiziable quantitative Begrenzung der Übernahme von Zahlungsverpflichtungen oder Haftungszusagen herleiten lässt, hat der Senat bislang nicht entschieden.

b) Die Wahrung der von Art. 79 Abs. 3 GG geschützten Grundsätze prüft das Bundesverfassungsgericht im Rahmen der Identitätskontrolle auch in Ansehung von Maßnahmen von Organen, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Europäischen Union.

4. Ultra-vires- und Identitätskontrolle sind zurückhaltend und europarechtsfreundlich anzuwenden. Das setzt voraus, dass der Gerichtshof der Europäischen Union, soweit erforderlich, im Wege eines Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 267 Abs. 3 AEUV vor der Feststellung eines Ultra-vires-Aktes oder einer Identitätsverletzung durch das Bundesverfassungsgericht mit der Sache befasst wird.

5. Welche Verpflichtungen mit der Integrationsverantwortung der Verfassungsorgane konkret verbunden sind, hängt von den Umständen des Einzelfalls ab. Sie wird allerdings erst dann verletzt, wenn die zuständigen Verfassungsorgane jegliche Schutzvorkehrungen unterlassen haben, die getroffenen Regelungen und Maßnahmen offensichtlich ungeeignet oder völlig unzureichend sind
oder wenn sie erheblich hinter dem Schutzziel zurückbleiben.

II. Nach diesen Maßstäben stellt der dem Eigenmittelbeschluss-Ratifizierungsgesetz zugrundeliegende Eigenmittelbeschluss 2020 jedenfalls keine offensichtliche und strukturell bedeutsame Überschreitung des geltenden Integrationsprogramms der Europäischen Union dar. Er berührt auch nicht die Verfassungsidentität des Grundgesetzes und beeinträchtigt die Beschwerdeführer daher nicht in ihrem Recht auf demokratische Selbstbestimmung.

1. Der Eigenmittelbeschluss 2020 ist auf Art. 311 Abs. 2 und Abs. 3 in Verbindung mit Art. 122 Abs. 1 und Abs. 2 AEUV gestützt und ermächtigt in seinem Art. 5 Abs. 1 UAbs. 1 Buchstabe a die Europäische Kommission zur Aufnahme von Krediten im Namen der Europäischen Union bis zu 750 Milliarden Euro zu Preisen von 2018. Darin liegt jedenfalls im Ergebnis keine offensichtliche Verletzung des Integrationsprogramms.

a) Zwar enthalten die Verträge keine Einzelermächtigung im Sinne von Art. 5 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 EUV, die die Europäische Union berechtigen würde, Kredite an den Kapitalmärkten aufzunehmen. Die Aufnahme von Krediten als sonstige Einnahmen im Sinne von Art. 311 Abs. 2 AEUV kommt jedoch ausnahmsweise dann in Betracht, wenn die Ermächtigung zur Kreditaufnahme im Eigenmittelbeschluss selbst vorgesehen ist, die Mittel ausschließlich zweckgebunden für eine der Europäischen Union zugewiesene Einzelermächtigung eingesetzt werden, die Kreditaufnahme zeitlich befristet und der Höhe nach begrenzt ist und die Summe dieser sonstigen Mittel den Umfang der Eigenmittel nicht übersteigt. Offensichtlich unzulässig dürfte die Aufnahme von Krediten durch die Europäische Union am Kapitalmarkt hingegen jedenfalls dann sein, wenn sie allgemein zur Haushaltsfinanzierung erfolgt.

b) Die Annahme, dass Art. 5 Eigenmittelbeschluss 2020 die Anforderungen an die Ermächtigung der Europäischen Union zur Aufnahme von Krediten an den Kapitalmärkten als sonstige Mittel im Sinne von Art. 311 Abs. 2 AEUV wahrt und die haushaltsverfassungsrechtlichen Grundsätze des Primärrechts beachtet, ist nicht offensichtlich fehlerhaft.

aa) Eine Ermächtigung der Europäischen Union zur Aufnahme von Krediten an den Kapitalmärkten als sonstige Mittel im Sinne von Art. 311 Abs. 2 AEUV ist im Eigenmittelbeschluss niedergelegt.

(1) Nach Art. 311 Abs. 2 AEUV ist der Haushalt der Europäischen Union unbeschadet der sonstigen Einnahmen vollständig aus Eigenmitteln zu finanzieren. Gemäß Art. 311 Abs. 3 Satz 1 AEUV erlässt der Rat gemäß einem besonderen Gesetzgebungsverfahren einstimmig und nach Anhörung des Europäischen Parlaments einen Beschluss, mit dem die Bestimmungen über das System der Eigenmittel der Union festgelegt werden. Nach Satz 2 können neue Kategorien von Eigenmitteln eingeführt oder bestehende Kategorien abgeschafft werden. Satz 3 bestimmt, dass der Eigenmittelbeschluss erst nach Zustimmung der Mitgliedstaaten im Einklang mit ihren jeweiligen verfassungsrechtlichen Vorschriften in Kraft tritt. Die Verankerung der sonstigen Einnahmen unmittelbar im Eigenmittelbeschluss ist danach nicht nur eine Option, sondern ein primärrechtliches Gebot, weil eine Entscheidung des Rates und der nationalen Parlamente über die Zurverfügungstellung der Mittel ohne sie nicht getroffen werden könnte.

(2) Art. 4 und Art. 5 Eigenmittelbeschluss 2020 regeln selbst die Ermächtigung der Europäischen Union zur Aufnahme von Krediten. Die aufzunehmenden Mittel stellen sonstige Einnahmen im Sinne von Art. 311 Abs. 2 AEUV dar. Sie sind keine Eigenmittel im Sinne von Art. 311 Abs. 3 Satz 2 AEUV, weil sie die Europäische Union nicht zur Fremdfinanzierung des allgemeinen Haushalts ermächtigen. Vielmehr bestimmt Art. 4 Eigenmittelbeschluss 2020 ausdrücklich, dass die Europäische Union die an den Kapitalmärkten aufgenommenen Mittel nicht zur Finanzierung operativer Ausgaben verwenden darf. Gemäß Art. 5 Abs. 1 UAbs. 1 Eigenmittelbeschluss 2020 sind sie zudem „ausschließlich zur Bewältigung der Folgen der COVID-19-Krise durch die Verordnung des Rates zur Schaffung eines Aufbauinstruments der Europäischen Union und die darin genannten sektoralen Rechtsvorschriften“ vorgesehen, das heißt nur zur Finanzierung zweckgebundener konkreter Unionsprogramme im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie.

bb) Eine solche Ermächtigung der Europäischen Union zur Aufnahme von Krediten an den Finanzmärkten verstößt jedenfalls dann nicht offensichtlich gegen Art. 311 Abs. 2 und Abs. 3 AEUV, wenn die Mittel für eine der Europäischen Union zugewiesene Einzelermächtigung verwendet werden und insoweit von vornherein strikt zweckgebunden sind.

(1) Die Verausgabung der gemäß Art. 4 und Art. 5 Eigenmittelbeschluss 2020 aufzunehmenden Mittel dient nach dem Wortlaut der Regelung der Bewältigung gravierender Schwierigkeiten im Sinne von Art. 122 AEUV. Die nach dem Wortlaut des Art. 5 Abs. 1 UAbs. 1 Buchstabe a Eigenmittelbeschluss 2020 vorgesehene Aufnahme von Krediten im Namen der Europäischen Union ist auf den historischen Ausnahmefall der „Bewältigung der Folgen der COVID-19-Krise“ beschränkt und insoweit strikt zweckgebunden. Diese Zweckbindung wird durch Art. 4 und Art. 6 Eigenmittelbeschluss 2020 („Außerordentliche und vorübergehende Anhebung der Eigenmittelobergrenzen für die Bereitstellung der zur Bewältigung der Folgen der COVID-19-Krise erforderlichen Mittel“) ebenso bestätigt wie durch die Erwägungsgründe.

(2) Dass sich Art. 4 und Art. 5 Eigenmittelbeschluss 2020 auch in der Sache auf Art. 122 Abs. 1 oder Abs. 2 AEUV stützen lassen, erscheint zwar fraglich, ist im Ergebnis jedoch nicht offensichtlich ausgeschlossen.

(a) Nach Art. 122 Abs. 1 AEUV kann der Rat auf Vorschlag der Europäischen Kommission unbeschadet der sonstigen in den Verträgen vorgesehenen Verfahren im Geiste der Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten über die der Wirtschaftslage angemessenen Maßnahmen beschließen, insbesondere falls gravierende Schwierigkeiten in der Versorgung mit bestimmten Waren, vor allem im Energiebereich, auftreten. Gemäß Art. 122 Abs. 2 Satz 1 AEUV kann er auf Vorschlag der Kommission, wenn ein Mitgliedstaat aufgrund von Naturkatastrophen oder außergewöhnlichen Ereignissen, die sich seiner Kontrolle entziehen, von Schwierigkeiten betroffen oder von gravierenden Schwierigkeiten ernstlich bedroht ist, beschließen, dem betreffenden Mitgliedstaat unter bestimmten Bedingungen einen finanziellen Beistand der Union zu gewähren.

Gegen einen Rückgriff auf die grundsätzlich eng auszulegende Ausnahmevorschrift des Art. 122 AEUV spricht unter anderem, dass der Wortlaut von Abs. 2 eine Hilfe nur bei Schwierigkeiten aufgrund von Naturkatastrophen oder außergewöhnlichen Ereignissen ermöglicht, die sich der Kontrolle eines Mitgliedstaats entziehen, so dass eine Förderung aller Mitgliedstaaten damit nicht gemeint sein dürfte. Gegen die Verankerung der EURI-Verordnung in Art. 122 AEUV spricht zudem ihr zweifelhafter Zusammenhang mit den Folgen der Pandemie. Mindestens 37 % der Mittel müssen für Klimaschutz und mindestens 20 % für Digitalisierung verwendet werden. Während Mittel für Digitalisierung aufgrund der Lockdown-Folgen und der eingeschränkten Möglichkeiten des direkten Kontakts zwischen Menschen noch mit der Pandemie in Verbindung gebracht werden könnten, dürfte dies mit Blick auf den Klimaschutz eher fernliegen. Auch dass gut 10 % der Mittel – 77,5 Milliarden Euro – als Zuschüsse für laufende Programme der Europäischen Union verwendet werden sollen, die mit der COVID-19-Pandemie in keinem Zusammenhang stehen, spricht – neben weiteren Gründen – gegen einen Rückgriff auf Art. 122 AEUV.

(b) Trotz dieser Einwände überschreiten Art. 4 und Art. 5 Eigenmittelbeschluss 2020 die Einzelermächtigung aus Art. 122 Abs. 1 und Abs. 2 AEUV jedenfalls nicht offensichtlich. Soweit dort auf die EURI-Verordnung verwiesen (Art. 5 Abs. 1 UAbs. 1 Eigenmittelbeschluss 2020) und deren Normprogramm als Zweckbindung für die Bewilligung der Kreditaufnahme festgelegt wird, beruht dies zumindest auf einer im Ergebnis vertretbaren Auslegung von Art. 122 Abs. 1 und Abs. 2 AEUV.

Dass der Verordnungsgeber die EURI-Verordnung auf Art. 122 Abs. 1 AEUV gestützt und das dort genannte Regelbeispiel „Schwierigkeiten in der Versorgung mit bestimmten Waren, vor allem im Energiebereich“ lediglich als exemplarischen Fall verstanden hat, findet im Wortlaut der Norm („insbesondere“) einen Anknüpfungspunkt. Es erscheint daher jedenfalls nicht unvertretbar, die im Rahmen von NGEU vorgesehene Mittelzuweisung als eine „der Wirtschaftslage angemessene Maßnahme“ einzuordnen.

Eine offensichtliche Überschreitung von Art. 122 Abs. 1 und Abs. 2 AEUV ist vor diesem Hintergrund zu verneinen, falls die Verordnung strikt auf den historischen Ausnahmefall der „Unterstützung der Erholung nach der COVID-19-Krise“ (Art. 1 Abs. 1 EURI-VO) beziehungsweise die „Bewältigung der negativen wirtschaftlichen Folgen der COVID-19-Krise“ (Art. 1 Abs. 2 EURI-VO) beschränkt bleibt.

Der Eigenmittelbeschluss 2020 geht davon aus, dass es sich bei der EURI-Verordnung und NGEU um eine Ausnahmeregelung zur Bewältigung der erheblichen wirtschaftlichen Auswirkungen der COVID-19-Pandemie handelt. Bundesregierung und Bundestag haben in der mündlichen Verhandlung betont, dass das NGEU ein einmaliges Instrument zur Reaktion auf eine präzedenzlose Krise sei, welche die COVID-19-Pandemie mit massiven Auswirkungen für die europäischen Volkswirtschaften ausgelöst habe, und dass diese Bewertung auch der mit dem Eigenmittelbeschluss-Ratifizierungsgesetz erteilten Zustimmung Deutschlands zugrunde liege. Es gehe insoweit nicht um den Einstieg in eine Transferunion.

cc) Die Ermächtigung der Europäischen Union zur Aufnahme von Krediten an den Kapitalmärkten in Art. 5 Eigenmittelbeschluss 2020 und die damit verbundenen sonstigen Einnahmen sind auch der Höhe nach auf den Maximalbetrag von 750 Milliarden Euro zu Preisen von 2018 begrenzt und zeitlich befristet. Beides ist Grundlage für das Eigenmittelbeschluss-Ratifizierungsgesetz.

dd) Möglich erscheint allerdings, dass die aus der Aufnahme von Krediten auf der Grundlage von Art. 5 Eigenmittelbeschluss 2020 erzielten sonstigen Einnahmen im Sinne von Art. 311 Abs. 2 AEUV die Eigenmittel im Sinne von Art. 311 Abs. 3 AEUV übersteigen. Auch hier bestehen allerdings unterschiedliche Bewertungsmöglichkeiten.

(1) Zwar erscheint zweifelhaft, ob die Einnahmen aus den Krediten im Verhältnis zu den Eigenmitteln die Ausnahme bleiben. Es spricht viel dafür, dass jedenfalls dann, wenn die Kreditermächtigung in einem Haushaltsjahr den Umfang des Haushalts der Europäischen Union übersteigt, Art. 311 Abs. 2 und Abs. 3 AEUV verletzt sein dürften. Das war 2021 und 2022 der Fall.

(2) Stellt man hingegen auf den Mehrjährigen Finanzrahmen der Europäischen Union (vgl. Art. 312 AEUV) ab, so reicht der Zeitraum, auf den sich die Ermächtigung zur Kreditaufnahme im Eigenmittelbeschluss 2020 bezieht, bis 2026. In den Jahren 2023 bis 2026 wird die vorgesehene Kreditaufnahme dabei deutlich hinter dem Volumen des regulären Haushalts zurückbleiben, so dass für die Mehrzahl der Jahre bis 2026 das von Art. 311 Abs. 2 und Abs. 3 AEUV geforderte Regel-Ausnahme-Verhältnis gewahrt bleibt.

Im Hinblick auf den Zweck von Art. 311 Abs. 2 und Abs. 3 AEUV erscheint es zumindest nicht offensichtlich unhaltbar, statt auf das einzelne Haushaltsjahr auf den Mehrjährigen Finanzrahmen abzustellen. So gesehen wird das hier in Rede stehende Regel-Ausnahme-Verhältnis beachtet: Der Mehrjährige Finanzrahmen 2021-2027 beläuft sich auf insgesamt 1.074,3 Milliarden Euro; im Vergleich dazu haben die NGEU-Mittel mit bis zu 750 Milliarden Euro zwar ein signifikantes Volumen; das Regel-Ausnahme-Verhältnis stellen sie jedoch nicht in Frage.

c) Ein Verstoß des Eigenmittelbeschlusses 2020 gegen Art. 125 Abs. 1 AEUV ist ebenfalls nicht festzustellen. Dessen Umgehung erscheint zwar nicht ausgeschlossen, ist jedoch nicht offensichtlich.

Art. 125 Abs. 1 AEUV bestimmt, dass weder die Europäische Union noch die Mitgliedstaaten für die Verbindlichkeiten eines anderen Mitgliedstaats haften und nicht für derartige Verbindlichkeiten eintreten. Zweck dieses Bail-out-Verbots ist es, dass die Mitgliedstaaten in ihrer Finanzpolitik autonom bleiben und nicht wechselseitig die Verantwortung für ihre jeweiligen Verbindlichkeiten übernehmen. Einen Finanzausgleich zwischen den Mitgliedstaaten kennt das Unionsrecht nicht.

Eine Umgehung von Art. 125 AEUV erscheint hier jedenfalls nicht ausgeschlossen. Zahlreiche Mitgliedstaaten weisen übermäßige Schuldenquoten auf. Das NGEU dient auch dazu, diese von der Marktlogik ein Stück weit zu entlasten und sie mit günstigen Kreditkonditionen zu versorgen. Denn durch die kreditfinanzierten verlorenen Zuschüsse wie auch die unionale Kreditaufnahme im Rahmen von NGEU entfällt die Notwendigkeit für eine (nationale) Neuverschuldung. Sollten die Haushaltsmittel der Europäischen Union jedoch nicht genügen, um die im Rahmen von NGEU aufgenommenen Schulden zu tilgen, kann die Europäische Kommission – wenn andere Möglichkeiten nicht ausreichen – als letztes Mittel von den Mitgliedstaaten verlangen, den Fehlbetrag im Verhältnis zu ihrem Beitrag zum Haushalt der Europäischen Union vorläufig zur Verfügung zu stellen (Art. 9 Abs. 4 Eigenmittelbeschluss 2020). Darin könnte zwar eine Umgehung von Art. 125 AEUV liegen. Ein solcher vorsorglicher Mittelabruf ist jedoch nur temporärer Natur und führt insbesondere nicht zu einer Übernahme von Schulden anderer Mitgliedstaaten.

2. Der Eigenmittelbeschluss 2020 berührt auch nicht die Verfassungsidentität des Grundgesetzes im Sinne von Art. 79 Abs. 3 GG.

a) In seinem Beschluss vom 15. April 2021 hat der Senat auf der Grundlage einer summarischen Prüfung bereits eine Berührung der haushaltspolitischen Verantwortung des Bundestages durch das Eigenmittelbeschluss-Ratifizierungsgesetz beziehungsweise den Eigenmittelbeschluss 2020 mit hoher Wahrscheinlichkeit verneint. An dieser Einschätzung hält er fest. Nach dem Ergebnis der mündlichen Verhandlung ist nicht ersichtlich, dass aufgrund des Eigenmittelbeschlusses 2020 Verpflichtungen für den Bundeshaushalt entstehen können, die das Budgetrecht des Bundestages substantiell einschränken.

Durch den Eigenmittelbeschluss 2020 werden keine dauerhaften Mechanismen begründet, die auf eine Haftungsübernahme für Willensentscheidungen anderer Staaten hinausliefen und die für das Budgetrecht des Deutschen Bundestages von struktureller Bedeutung wären. Über die im Eigenmittelbeschluss 2020 verankerte Zweckbindung und die Einwirkungsmöglichkeiten des Deutschen Bundestages auf das Verhalten der Bundesregierung beim Vollzug von NGEU (vgl. Art. 23 Abs. 2 und Abs. 3 GG) ist zudem ein hinreichender parlamentarischer Einfluss auf die Art und Weise des Umgangs mit den zur Verfügung gestellten Mitteln sichergestellt.

Das gilt auch für die in Art. 9 Abs. 4 Eigenmittelbeschluss 2020 geregelte Nachschusspflicht. Diese stellt, wie dargelegt, keine Haftungsübernahme für Willensentscheidungen anderer Staaten oder auch der Europäischen Kommission dar, sondern einen vorübergehenden anteiligen Vorschuss, dessen Voraussetzungen der Eigenmittelbeschluss 2020 detailliert regelt und den der Bundestag mit der Zustimmung zum Eigenmittelbeschluss-Ratifizierungsgesetz in vollem Umfang verantwortet.

Im Übrigen wäre die in Rede stehende rechnerische jährliche Maximalbelastung für den Bundeshaushalt von circa 21 bis 28 Milliarden Euro zwar erheblich und für den politischen Handlungsspielraum bedeutsam; das Budgetrecht des Parlaments ließe sie jedoch nicht leerlaufen.

b) Auch in der Gesamtschau mit anderen, von der Bundesrepublik Deutschland im Rahmen der Wirtschafts- und Währungsunion bereits übernommenen Zahlungsverpflichtungen und Haftungszusagen lässt sich eine Verletzung des Budgetrechts des Bundestages insoweit nicht feststellen. Es ist in erster Linie Sache des Parlaments, in Abwägung aktueller Bedürfnisse mit den Risiken mittel- und langfristiger Gewährleistungen darüber zu befinden, in welcher Gesamthöhe die Übernahme von Zahlungsverpflichtungen und Gewährleistungen noch verantwortbar ist.

Die mündliche Verhandlung hat nicht ergeben, dass sich der Bundestag mit dem Eigenmittelbeschluss-Ratifizierungsgesetz in der Gesamtschau mit anderen bereits übernommenen Verpflichtungen und Haftungszusagen seines Budgetrechts begeben hätte und nicht mehr „Herr seiner Entschlüsse“ wäre. Allerdings ist der finanzielle Spielraum des Bundestages in der Zukunft durch übernommene Zahlungsverpflichtungen und Haftungszusagen bereits erheblich verengt.

c) Der Bundestag ist im Rahmen seiner Integrationsverantwortung angesichts dieser Belastungen indes gehalten, die Verwendung der Mittel aus NGEU und die Entwicklung des mit ihm verbundenen Haftungsrisikos für den Bundeshaushalt fortlaufend zu beobachten und gegebenenfalls geeignete Maßnahmen zum Schutz des Bundeshaushalts zu ergreifen.

III. Eine Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union gemäß Art. 267 Abs. 3 AEUV ist nicht veranlasst. In dem hier zu entscheidenden Fall kommt es nicht auf die Auslegung von Art. 122 und Art. 311 AEUV durch den Gerichtshof an, weil es sich jedenfalls bei der durch den Senat vorgenommenen Auslegung des Eigenmittelbeschlusses 2020 und seiner vertraglichen Grundlagen nicht um eine hinreichend qualifizierte Überschreitung des Integrationsprogramms oder eine Berührung der Verfassungsidentität des Grundgesetzes handelt. Im Übrigen ist nicht davon auszugehen, dass der Gerichtshof die in Rede stehenden Einzelermächtigungen in Art. 122 und Art. 311 Abs. 2 und Abs. 3 AEUV im Ergebnis enger auslegen würde als das Bundesverfassungsgericht, so dass die Verfassungsbeschwerden auch im Falle einer Vorlage erfolglos blieben.

Abweichende Meinung des Richters Müller:

„Den Vorhang zu und alle Fragen offen“ scheint mir keine geeignete Maxime zum effektiven Schutz des grundrechtsgleichen Rechts auf Demokratie aus Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG zu sein. Dennoch lässt die Senatsmehrheit in ihrer Entscheidung nahezu alle relevanten unionsrechtlichen Fragen unbeantwortet, verweigert den Dialog der europäischen Verfassungsgerichte, nimmt eine Verletzung der Integrationsverantwortung in Kauf und deutet einen Rückzug des Senats aus der materiellen Ultra-vires-Kontrolle an. Daher sehe ich mich zu meinem Bedauern außerstande, diese Entscheidung mitzutragen.

1. Ausgehend von der zutreffenden Annahme, dass für die Europäische Union ein allgemeines Verschuldungsverbot gilt, listet die Senatsmehrheit zahlreiche Bedenken gegen deren Kompetenz zur Kreditaufnahme gemäß Art. 5 Abs. 1 UAbs. 1 Buchstabe a Eigenmittelbeschluss 2020 auf. Ungeachtet dessen beschränkt sie sich im Ergebnis auf die Feststellung, es sei „nicht offensichtlich ausgeschlossen“, dass die im Eigenmittelbeschluss 2020 vorgesehene Schuldenaufnahme die Vorgaben des Primärrechts beachte. Dabei trägt die Senatsmehrheit jedoch dem von ihr selbst angemahnten Maßstab, dass die Offensichtlichkeit einer Kompetenzüberschreitung auf der Grundlage einer „sorgfältigen und detailliert begründeten Auslegung“ nach den allgemeinen Grundsätzen zu beurteilen ist, nicht Rechnung.

Die Senatsmehrheit geht zutreffend davon aus, dass durch den Rückgriff auf sonstige Einnahmen gemäß Art. 311 Abs. 2 AEUV die Finanzierung der Europäischen Union durch Eigenmittel nicht umgangen werden dürfe. Dass dem vorliegend Rechnung getragen wird, ist nicht nachvollziehbar. Dagegen spricht, dass die vorgesehenen Kreditmittel in den Jahren 2021 und 2022 die Eigenmittel des Mehrjährigen Finanzrahmens um mehr als das Doppelte übersteigen. Für die Gesamtdauer des Mehrjährigen Finanzrahmens bis 2027 steht einem Haushaltsvolumen in Höhe von 1.074 Milliarden Euro ein Kreditvolumen von 750 Milliarden Euro gegenüber. Damit tritt über den gesamten Zeitraum des Mehrjährigen Finanzrahmens gesehen die Kreditfinanzierung als annähernd gleichwertige „zweite Säule“ neben die Eigenmittelfinanzierung der Europäischen Union. Dies streitet dafür, dass Art. 5 Eigenmittelbeschluss 2020 den primärrechtlichen Kompetenzrahmen überschreitet und auf eine grundlegende Veränderung der Finanzarchitektur der Europäischen Union gerichtet ist.

Die Senatsmehrheit beschränkt sich demgegenüber auf die Feststellung, dass es nicht offensichtlich unzutreffend sei, statt auf das jeweilige Haushaltsjahr auf den Mehrjährigen Finanzrahmen insgesamt abzustellen. Weshalb das auch für den Haushalt der Europäischen Union geltende Jährlichkeitsprinzip hier nicht zu berücksichtigen ist, bleibt offen. Zumindest wäre bei einem Abstellen auf den gesamten Zeitraum des Mehrjährigen Finanzrahmens zu entscheiden gewesen, wie der Umstand, dass das vorgesehene Kreditvolumen von 750 Milliarden Euro nur um rund ein Drittel hinter der Gesamtsumme der Haushaltsmittel zurückbleibt, mit dem allgemeinen Verschuldungsverbot und dem Gebot aus Art. 311 Abs. 2 AEUV vereinbar ist, den Haushalt der Europäischen Union grundsätzlich aus Eigenmitteln zu finanzieren.

Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus dem Hinweis auf die strikte Zweckbindung der Kreditmittel zur Bewältigung der Folgen der COVID-19-Krise und auf Art. 122 AEUV als Ermächtigungsgrundlage für eine dementsprechende Kreditaufnahme. Dem steht bereits entgegen, dass es die Senatsmehrheit selbst als fraglich ansieht, ob die tatbestandlichen Voraussetzungen von Art. 122 Abs. 1 und Abs. 2 AEUV vorliegen. Trotz dargelegter Bedenken vermeidet sie eine Entscheidung, auf welchen Absatz der Norm Art. 5 Eigenmittelbeschluss 2020 gestützt werden kann. Die damit verbundene Verschleifung der beiden Absätze der Norm zu einer einheitlichen Einzelermächtigung bleibt hinter dem gebotenen Maß an sorgfältiger Auseinandersetzung mit Art. 122 Abs. 1 und Abs. 2 AEUV zurück.

Hinzu kommt, dass sich weitere Bedenken gegen die Verankerung von Art. 5 Eigenmittelbeschluss 2020 in Art. 122 AEUV auch aus Sicht der Senatsmehrheit aus der inhaltlichen Ausgestaltung des NGEU ergeben. Dagegen, dass die vorgesehenen Maßnahmen gezielt auf die Bewältigung der Folgen der COVID-19-Pandemie gerichtet sind und es sich nicht um ein allgemeines Konjunkturprogramm handelt sprechen der Verteilungsschlüssel der Mittel, ihre Verwendungszwecke sowie die Dauer der Verausgabung. Die gebotene Konnexität zwischen den Folgen der Pandemie und den in NGEU vorgesehenen Maßnahmen zur Digitalisierung oder zur Herbeiführung der Klimaneutralität ist nicht ersichtlich. In der mündlichen Verhandlung haben die sachverständigen Auskunftspersonen aus den Wirtschaftswissenschaften die dahingehenden Bedenken bestätigt. Ungeachtet dessen beschränkt sich die Senatsmehrheit auf die Feststellung, eine Überschreitung der Grenzen von Art. 122 AEUV sei „nicht offensichtlich“.

Daneben fehlt es an einer tragfähigen Begründung für die Auffassung der Senatsmehrheit, dass im Falle des Vorliegens der tatbestandlichen Voraussetzungen aus der Einzelermächtigung des Art. 122 AEUV eine Kompetenz der Europäischen Union zur Schuldenaufnahme bis zur Höhe des eigenmittelgestützten regulären Haushalts folgt.

Folgte man der Logik der Senatsmehrheit, genügte der Bestand einer Einzelermächtigung, um zu deren Ausfüllung Kredite aufzunehmen, die lediglich – über einen mehrjährigen Zeitraum betrachtet – die Summe der Eigenmittel im regulären Haushalt nicht übersteigen dürften. Die Vorstellung, dass das primärrechtliche Integrationsprogramm einerseits ein striktes Verschuldungsverbot für den regulären Haushalt vorsieht und andererseits gleichzeitig die Möglichkeit eröffnet, dieses Verbot durch – auf beliebige Einzelermächtigungen gestützte – Nebenhaushalte weitgehend zu entleeren, erscheint mir abwegig.

2. Angesichts der von der Senatsmehrheit selbst ausgeführten, schwerwiegenden Zweifel an der Primärrechtskonformität des Eigenmittelbeschlusses 2020 hätte es vorliegend zumindest einer Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union bedurft. Erst mit der Entscheidung des Gerichtshofs wäre für das Bundesverfassungsgericht die Grundlage geschaffen, um seinerseits über die Offensichtlichkeit einer Kompetenzüberschreitung durch Art. 5 Abs. 1 UAbs. 1 Buchstabe a Eigenmittelbeschluss 2020 und damit eine Verletzung des Rechts der Beschwerdeführer aus Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG zu urteilen. Der Behauptung des Senats, einer Vorlage an den Gerichtshof habe es nicht bedurft, weil nicht zu erwarten sei, dass dieser Art. 122 oder Art. 311 Abs. 2 AEUV enger auslegen werde als das Bundesverfassungsgericht, steht entgegen, dass es an einer diese Einschätzung rechtfertigenden Rechtsprechung des Gerichtshofs fehlt und vor allem die Senatsmehrheit selbst eine verbindliche Auslegung dieser Normen nicht vornimmt, sondern sich auf eine Prüfung am Maßstab der „offensichtlichen Unvertretbarkeit“ beschränkt.

3. a) Anstelle der Vorlage an den Gerichtshof ist die Senatsmehrheit bestrebt, Kreditaufnahmen der Europäischen Union durch einen aus dem Verbot der Umgehung der Finanzierung des Unionshaushalts durch Eigenmittel abgeleiteten Kriterienkatalog zu begrenzen. Dass es damit gelingt, die Beachtung des Grundsatzes der Finanzierung der Europäischen Union aus Eigenmitteln zu gewährleisten, ist zu bezweifeln. Es erschließt sich nicht, wie durch die Bindung von Kreditaufnahmen an vertragliche Einzelermächtigungen zur Beachtung des Grundsatzes vorrangiger Eigenmittelfinanzierung der Europäischen Union beigetragen werden könnte.

b) Mit der Hinnahme von Art. 5 Abs. 1 UAbs. 1 Buchstabe a Eigenmittelbeschluss 2020 öffnet die Senatsmehrheit den Weg zu einer grundlegenden Veränderung der Finanzarchitektur der Europäischen Union, die durch ein dauerhaftes, nahezu paritätisches Nebeneinander von Eigenmitteln und Kreditaufnahmen geprägt ist. Die Haushaltsstrukturen der Europäischen Union verändern sich damit evident in Richtung auf eine Fiskal- und Transferunion. Zwar mag es dafür sehr gute politische Gründe geben. Dies ändert jedoch nichts daran, dass in keiner Weise ersichtlich ist, dass diese Haushaltsarchitektur dem Integrationskonzept, wie es in Art. 310 ff. AEUV festgelegt ist, entspricht. Der Weg zur Transformation der Europäischen Union in eine Transfer- und Verschuldungsunion führt daher nach meiner festen Überzeugung nur über eine Änderung der Verträge im Verfahren nach Art. 48 EUV.

c) Demgegenüber kann weder darauf verwiesen werden, dass die Europäische Union auch in der Vergangenheit schon Kredite aufgenommen habe, noch darauf, dass es sich bei NGEU um eine einmalige Ausnahme zur Bewältigung einer präzedenzlosen Krise handele.

Die in der Vergangenheit von der Europäischen Union aufgenommenen Kredite sind in keiner Weise mit der Kreditaufnahme aufgrund Art. 5 Abs. 1 UAbs. 1 Buchstabe a Eigenmittelbeschluss 2020 vergleichbar. Abgesehen davon, dass von einer bisherigen Praxis nicht zwingend auf deren Primärrechtskonformität geschlossen werden kann, waren bisherige Kreditaufnahmen in der Höhe stets eng begrenzt. Außerdem erlaubt Art. 5 Abs. 1 UAbs. 1 Buchstabe b Eigenmittelbeschluss 2020, den größeren Teil der Kreditmittel (390 Milliarden Euro) als verlorene Zuschüsse einzusetzen. Damit verbunden sind Umverteilungseffekte, die in dieser Form bei dem bisherigen Einsatz von Kreditmitteln nicht entstanden sind.

d) Die Behauptung der Senatsmehrheit, es handele sich bei NGEU um ein „einmaliges Instrument zur Reaktion auf eine präzedenzlose Krise“ und „nicht um den Einstieg in die Transferunion“ ist in mehrfacher Hinsicht nicht belastbar. Dem widerspricht nicht nur die fehlende Begrenzung der Verwendungszwecke des NGEU auf die Bewältigung der Folgen der COVID-19-Pandemie und die regelmäßige Verstetigung temporär eingeführter Instrumente über das Ende der jeweiligen Krise hinaus. Die Senatsmehrheit lässt auch außer Betracht, dass die Bundesregierung in Anknüpfung an Äußerungen des Bundesfinanzministers im Deutschen Bundestag erklärt hat, dass NGEU „einen notwendigen und überfälligen Schritt in Richtung Fiskalunion Europäische Union“ darstelle. Dass sich demgegenüber ein beamteter Staatssekretär in der mündlichen Verhandlung von den Äußerungen seines Ministers distanziert hat, macht die von der Bundesregierung im Parlament abgegebene Erklärung in keiner Weise gegenstandslos.

4. Insgesamt wird die Entscheidung den Anforderungen an eine effektive Ultra-vires-Kontrolle im Rahmen des Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG nicht gerecht. Die Senatsmehrheit nimmt unter Verzicht auf die Möglichkeit einer Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union eine grundsätzliche Änderung der Finanzarchitektur der Europäischen Union ohne die erforderliche Änderung des Primärrechts („Vertragsänderung auf kaltem Wege“) in Kauf. Dem Schutz des Rechts auf Demokratie aus Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG genügt dies nicht.

5. Über den konkreten Einzelfall hinaus begründet die Vorgehensweise der Senatsmehrheit die Gefahr einer substantiellen Entleerung der unionsrechtlichen Kompetenzkontrolle.

Zwar setzt nach der ständigen Rechtsprechung des Senats eine erfolgreiche Ultra-vires-Kontrolle eine hinreichend qualifizierte, das heißt eine offensichtliche und strukturell bedeutsame Kompetenzüberschreitung voraus. Dies entbindet den Senat jedoch nicht von der Notwendigkeit, auf der Grundlage einer eigenen rechtlichen Bewertung im Dialog mit dem Gerichtshof der Europäischen Union den Versuch zu unternehmen, den Inhalt des Unionsrechts zu klären. Begrenzt der Senat sich hingegen von vornherein auf eine bloße Prüfung des Kriteriums der „Offensichtlichkeit“ eines Kompetenzverstoßes, ohne sich der Mühe einer sorgfältigen und detailliert begründeten Auslegung des einschlägigen Unionsrechts zu unterziehen, besteht die Gefahr einer weitgehenden Aushöhlung der Ultra-vires-Kontrolle. So liegt es im vorliegenden Fall: Die Senatsmehrheit lässt letztlich alle entscheidungserheblichen Fragen zur Vereinbarkeit von Art. 5 Abs. 1 UAbs. 1 Buchstabe a Eigenmittelbeschluss 2020 mit den primärrechtlichen Vorgaben aus Art. 311 Abs. 2 und 3 AEUV sowie Art. 122 Abs. 1 und 2 AEUV offen.

Quelle: Bundesverfassungsgericht, Pressemitteilung vom 6. Dezember 2022

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