Sind die Einlassungen eines Patienten zu seinem psychischen Beschwerdekomplex glaubhaft, können diese als Befund einer psychiatrischen Begutachtung zugrunde gelegt und entsprechend von den Gerichten herangezogen werden. Dies entschied das Sozialgericht Karlsruhe im Fall einer 47-Jährigen und gewährte eine Erwerbsminderungsrente aufgrund einer dissoziativen Identitätsstörung.

Der von der zuständigen 9. Kammer zunächst mit der Erstattung eines Sachverständigengutachtens beauftragte Facharzt für Neurologie und Psychiatrie hatte diese für vollschichtig leistungsfähig gehalten. Eine psychische Störung sei bei der Klägerin wegen Fehlens objektivierbarer Befunde nicht zu diagnostizieren. Es sei vielmehr von einem bewussten Manipulationsversuch auszugehen.

Auf Antrag der Klägerin holte die Kammer ein zweites Gutachten ein, das zu einem völlig anderen Ergebnis gelangte. Der Klägerin seien berufliche Tätigkeiten nur noch in einem Umfang von unter drei Stunden arbeitstäglich zuzumuten. Die 47-Jährige leide an einer dissoziativen Identitätsstörung und an einer posttraumatischen Belastungsstörung. Diese Erkrankungen führten zu einer erheblichen Störung von Handlungskontrolle, Kommunikation, Gedächtnis und emotionaler Kontrolle. Die Klägerin habe ihre Beschwerden glaubhaft geschildert, Hinweise auf eine Simulation hätten sich nicht ergeben.

Mit seinem in der vergangenen Woche veröffentlichen Urteil vom 12.08.2022 (S 9 R 2835/20) schloss sich das Sozialgericht Karlsruhe der Einschätzung des zweiten Sachverständigen an und gab der Klägerin Recht. Ihr stehe ein Anspruch auf Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung zu. Die Kammer sei davon überzeugt, dass die Klägerin an einer dissoziativen Identitätsstörung leide und deshalb voll erwerbsgemindert sei. Das Gericht erachte den Beschwerdevortrag der Klägerin entgegen der Beurteilung des ersten Sachverständigen als glaubhaft. Diese Einschätzung werde auch von den behandelnden Ärzten gestützt.

Danach wechsele die Klägerin zu unvorhersehbaren Zeiten und Umständen in eine von mehreren kindlichen Persönlichkeiten, z. B. in die Persönlichkeit des „verspielten Kindes“, in diejenige des „ängstlichen Kindes “ oder in diejenige des „weinerlichen Kindes“. Sobald die Klägerin eine solche kindliche Persönlichkeit angenommen habe, sei sie – eben wie eine Minderjährige – nicht erwerbsfähig. Das Urteil ist nicht rechtskräftig; es kann von den Beteiligten mit der Berufung zum Landessozialgericht Baden-Württemberg in Stuttgart angefochten werden.

Quelle: Sozialgericht Karlsruhe, Pressemitteilung vom 31. August 2022

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