Die Fachgruppe Strafrecht und der Landesverband Baden-Württemberg der Neuen Richtervereinigung (NRV) haben einen offenen Brief zum Erlass zur Rechtsvollstreckung von im Zuge der Pandemie unterbrochenen Ersatzfreiheitsstrafen an das Justizministerium Baden-Württemberg gerichtet:

„Sehr geehrte Damen und Herren,


beim Landgericht Freiburg wurde kürzlich Ihr Erlass vom 12.08.2022 per Email bekannt gegeben. Dessen Inhalt befremdet, besonders soweit es darin auch um die Vollstreckung bereits anvollstreckter, dann aber im Zuge der Pandemie unterbrochener Ersatzfreiheitsstrafen geht.


Die Bundesregierung plant derzeit eine Reform des § 43 StGB des Inhalts, dass ein Tag Ersatzfreiheitsstrafe in Zukunft zwei Tagessätzen entsprechen wird. Bei der Ersatzfreiheitsstrafe handelt es sich um eine Freiheitsentziehung, die das erkennende Gericht gerade nicht für erforderlich hielt und die in aller Regel die Schwächsten unter den Armen trifft. Dies und die deshalb derzeit laufende gesellschaftliche Diskussion um diese Vollstreckungsart dürften dem Justizministerium bekannt sein. Dennoch möchte das Justizministerium jetzt selbst diejenigen wieder in Haft nehmen lassen und ihre Ersatzfreiheitsstrafe nach dem alten Maßstab vollstrecken, die im Zuge der Pandemie bereits aus der Haft entlassen worden waren. Diese vollständige Vollstreckung wird daher nur noch diejenigen treffen, die sich nicht bereits in den ersten Tagen der Haft durch Bezahlung der Geldstrafe „freikaufen“ konnten und auch nach ihrer Entlassung nach § 455a StPO nicht in der Lage waren, nunmehr gemeinnützige Arbeit abzuleisten. Wobei gerade auch diese Möglichkeiten, gemeinnützige Arbeit abzuleisten, mit den pandemiebedingten Einschränkungen stark zurückgegangen waren und oft nicht wiederaufgelebt sind.


Damit wird sehenden Auges, ohne Notwendigkeit und ohne soziales Feingefühl, eine Freiheitsentziehung für die Allerschwächsten der Allerärmsten angeordnet, obwohl der zuständige Bundesgesetzgeber genau dies nicht mehr will und obwohl die er-kennenden Gerichte diese Personen nicht in Haft sehen wollten.
Es wäre aus unserer Sicht geboten, wenigstens die Personen weiterhin gem. § 455 a StPO von der Vollstreckung der restlichen Ersatzfreiheitsstrafe auszunehmen, die bis zur Unterbrechung nach § 455 a StPO bereits die Hälfte verbüßt hatten.


Darüber hinaus würde sich auch anbieten, die Personen, die aus der Vollstreckung einer kurzen unbedingten Freiheitsstrafe pandemiebedingt vorzeitig entlassen wurden und deren Restfreiheitsstrafe bis zum möglichen Entlasszeitpunkt nicht mehr als einige Wochen beträgt, nicht wieder zu inhaftieren, sondern die restliche Vollstreckung im Gnadenweg zur Bewährung auszusetzen, soweit die Voraussetzungen des § 56 Abs. 1 StGB vorliegen. Andernfalls wird an diesen Personen ohne erkennbare Notwendigkeit erneut eine vom Bundesgesetzgeber zu Recht als besonders schädlich eingestufte (sehr) kurzfristige Freiheitsstrafe vollstreckt. Die Verurteilten hatten keinen Einfluss auf die Vollstreckungsunterbrechung, haben aber seitdem ihr Leben draußen weitergelebt. Wozu hier erneut „aus Prinzip“ eine kurze Strafe zu Ende voll-strecken, wenn neue Straftaten nicht vorgekommen und nicht zu erwarten sind? Was bei der Weihnachtsamnestie möglich ist, müsste in der Verwaltung der sehr ungewöhnlichen Pandemiezeit doch ebenfalls möglich sein.


Dass vom Justizministerium stattdessen der kostenträchtige Weg der erneuten Inhaftierung dieser Personen beschritten wird, weist auf fehlendes Verständnis für die soziale Realität dieser Verurteilten, aber auch für eine Strafrechtspflege mit Augenmaß hin. Dies können wir als erfahrene Strafrechtspraktiker nur bedauern.


Mit freundlichen Grüßen
Dr. Susanne Müller
Vorsitzende Richterin am Landgericht Freiburg
für die Fachgruppe Strafrecht und den Landesverband Baden-Württemberg
der Neuen Richtervereinigung“

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